F.A.Z., Freitag den 12.08.2016
Insel bedeutet Isolation
Sri Lanka sehnt sich nach Versöhnung: Kann Kunst ethnische Gräben überwinden?
COLOMBO, im August
Es gab eine Zeit, da führte der Weg von Europa nach Indien über Sri Lanka, die Insel an der Südspitze Indiens, die früher Ceylon hieß. Eine Anzahl deutscher Schriftsteller und Künstler, die Anfang des letzten Jahrhunderts auf der Suche nach dem geheimnisvollen Indien waren, fanden zunächst Sri Lanka. Der Philosoph Hermann Keyserling, der in seinem „Reisetagebuch eines Philosophen“ (1918) mit heller Entdeckerfreude die buddhistischen Pilgerstätten der Insel beschrieb, setzte später nach Südindien über. Auch Stefan Zweigs Indienreise begann in Sri Lanka. Der Illustrator von Stefan Georges Lyrikbüchern, Melchior Lechter, schmachtete überwältigt in Colombo: „Ich bin unglücklich, unbefriedigt, denn wie soll ich diese wunder, die so plötzlich auflodern und ebenso schnell in nacht versinken, festhalten? Ein ganz wenig nur davon?!“ Hermann Hesse war weniger glücklich auf Sri Lanka. In Kandy geriet er in Zorn über die oberflächliche, verlogene Religiosität im Umkreis der buddhistischen Tempel.
Sri Lanka gab den Schriftstellern und Künstlern, was sie später in Indien vermissten: lebendige buddhistische Kultur. Aber als die Reisenden vom Schiff ins Flugzeug umstiegen, vereinsamte die Insel. Die deutschen Indiensucher nach dem Zweiten Weltkrieg haben Sri Lanka meist übergangen, ob sie Günter Grass oder Stefan Heym, Ingeborg Drewitz, Josef Winkler oder Felicitas Hoppe heißen.
Heute ist Sri Lanka eine beliebte Badeinsel. Die Touristen schätzen Sauberkeit, Ordnung und Gastfreundlichkeit der Einheimischen. Sie fliegen hin, liegen zwei Wochen am Strand, kehren zurück und erzählen: „Sri Lanka war phantastisch, wir hatten herrliches Wetter und leckeres Essen.“ Das war’s. Wer sich aber in der Hauptstadt Colombo mit dort lebenden Kulturschaffenden unterhält, lernt ein anderes Sri Lanka kennen. Da ist der Stolz auf die gut erhaltenen antiken buddhistischen Kulturgüter, die heute keineswegs zu musealer Leblosigkeit erstarrt sind, sondern weiterhin von buddhistischen Pilgern besucht und verehrt werden. Doch der Stolz auf anderes ist verhalten.
Sieben Jahre sind seit dem blutig-unrühmlichen Ende des Bürgerkriegs zwischen der staatlichen Armee und den tamilischen Separatisten vergangen, bei dem Zigtausende umkamen. Auch die ungeliebte Regierung von Mahinda Rajapaksa, die in die Auseinandersetzungen tief verwickelt war, ist abgewählt. Dennoch kommt, so heißt es immer wieder, auch unter der neuen Regierung von Maithripala Sirisena der Versöhnungsprozess zwischen der singhalesischen Bevölkerungsmehrheit und der tamilischen Minderheit nicht recht in Gang, obwohl der mehrheitlich von hinduistischen Tamilen bewohnte Norden mit der Stadt Jaffna wieder allgemein zugänglich und auch für touristische Bedürfnisse wiederhergestellt ist.
Chandraguptha Thenuwara ist ein Künstler, der die Versöhnung mit Leidenschaft vorantreibt. Seit achtzehn Jahren veranstaltet er jeden Juli eine neue Ausstellung, die an jenen „Schwarzen Juli“ des Jahres 1983 erinnert, an dem die Massaker an den Tamilen begannen, viele Städte in Flammen standen und der Hass gesät wurde. Der Singhalese Thenuwara erlebte die Brandschatzung in Colombo mit eigenen Augen, eine Erfahrung, die ihn tief prägte. Tausende Tamilen flüchteten, auch in die Schweiz und nach Deutschland.
Thenuwara studierte Kunst in Moskau und wurde, zurückgekehrt, ein Künstler-Aktivist. Eine Serie von Gemälden und Installationen war von den zahllosen farbigen Öltonnen inspiriert, die überall in Colombo aufgestellt wurden, um Polizeikontrollen zu markieren. Oder er zeichnete in der Ausstellungshalle die Wege der Stadt nach und ließ Kacheln mit Datum und Namen einsetzen, wo Massaker stattgefunden hatten. Der Künstler nahm an politischen Straßenprotesten teil, schloss sich Menschenrechtsbewegungen an, sprach auf Kundgebungen. Er und seine Familie erhielten Todesdrohungen, doch Thenuwara, dessen bissiger Humor gerühmt wird, war davon nicht zu beeindrucken.
Während er in der Lobby des Hotels in Colombo aus seinem Leben erzählt, wirkt der Sechundfünfzigjährige quicklebendig und unbelastet. Trotz seines Aktivismus hat er beruflich reüssiert; er ist nicht nur einer der geachtetsten Künstler seines Landes, sondern leitet auch die Kunstabteilung der Universität und ist Präsident des Arts Council of Sri Lanka.
Der Filmemacher Prasanna Vithanage bemüht sich um eine Integration von Singhalesen und Tamilen durch Filme. Bisher hat er zusammen mit tamilischen Filmstudenten in Jaffna drei gedreht. Gemeinsam wurde die Handlung erarbeitet, gemeinsam gespielt und produziert. Prasanna ist es wichtig, dass die jungen Menschen ihre eigenen Geschichten in Szene setzen, sie auszudrücken lernen, um sich vom Trauma der Geschichte(n) zu befreien. Ein Film erzählt von einem toten Soldaten, bei dem man das Foto eines Mädchens entdeckt. Auf der Rückseite steht eine Telefonnummer. Jemand ruft die junge Frau an, doch bringt er es nicht über sich, ihr die Nachricht vom Tod ihres Freundes zu geben. Eine imaginäre Biographie nach dem Tod entsteht. Prasanna zeigt seine Filme, die nicht für große Kinosäle gemacht sind, an Universitäten und vor engagierten Gruppen und diskutiert danach mit dem Publikum.
Wie auch die Kulturjournalisten der Tageszeitung „Ceylon Today“, Ranga Chandrarathne und Indeewara Thilakarathne, weist Prasanna Vithanage immer wieder auf den gewalttätigen Einfluss zahlreicher buddhistischer Mönche in Sri Lanka hin, die gegen die vorwiegend hinduistischen Tamilen aufwieglerisch vorgegangen seien und mit der Regierungspolitik paktiert haben. Ziel war ein singhalesischer Nationalismus. Dass Buddhisten aggressiv und gewalttätig handeln können, beweist die Zeitgeschichte Sri Lankas, aber auch zum Beispiel die von Myanmar. Das Bild des Buddhismus im Westen ist zutiefst vom Dalai Lama beeinflusst und kann keine allgemeine Gültigkeit beanspruchen.
Der Violinist und Komponist Lakshman Josef de Saram setzt der Kulturszene seines Landes ein konträres Gesicht auf. Nicht nach Innen gewandt, weniger um Bewältigung der Vergangenheit besorgt, sondern weltoffen-westlich, existentiell. Als er ins Café tritt, konfrontiert er sich als Erstes mit der Frage, warum er am Morgen überhaupt aufgestanden sei. Wäre es nicht besser gewesen, einfach liegenzubleiben? Seine Antwort erstaunt: Johann Sebastian Bach trieb ihn dazu, der Zauber einer Fuge, die Lauterkeit seiner Musik.
Mit sechzehn Jahren ging Lakshman als Stipendiat nach New York, um Violine zu studieren. Celibidache war sein Guru, sagt er, beide verband die Neigung zum Buddhismus. Heute leitet der Musiker das Orchester der Chamber Music Society of Colombo, ein Ensemble halbprofessioneller Musiker. Damit hat Lakshman möglich gemacht, was nicht einmal dem großen Indien im Norden gelungen ist: ein ständiges Kammerorchester aufzustellen. Den Grund dafür nennt Lakshman auch: Sri Lanka kennt keine eigene Musiktradition.
Dieses Vakuum konnte die europäische Musik füllen. Folglich höre man im kleinen Sri Lanka mehr europäisch-klassische Musik als in Indien. Auch Lakshman Josef de Saram hatte versucht, den Versöhnungsprozess zu fördern. Er fuhr mit seinem Orchester nach Jaffna und trat auf. „Nach zwanzig Minuten haben wir aufgegeben“, berichtet er, denn das Publikum im Norden der Insel war nicht an Mozart und Haydn gewöhnt, es schwatzte und lief umher.
Lakshman Josef de Saram schreibt Filmmusik für Bollywood und Hollywood und ist dafür am besten bekannt, „aber das ist nur Broterwerb“. In ihm mischen und streiten sich westliche und östliche Welten auf das Kreativste. Lakshman ist Einzelgänger in Sri Lanka, dennoch bekennt er sich zu einer tiefen Sehnsucht nach Heimat: seinem Viertel, seiner Straße, seiner Großfamilie. Die Insellage Sri Lankas sorgt für Isolation, gleichzeitig aber ist das Land nach allen Seiten für Einflüsse offen.
MARTIN KÄMPCHEN