Mutter Teresas Briefe an ihre geistlichen Ratgeber (“Orientierung”)

[Orientierung (Schweiz) 15. 2. 2008]

Mutter Teresas Briefe an ihre geistlichen Ratgeber

 

 

Reaktionen auf ein verstörendes Buch

Als letzten September, rechtzeitig zu ihrem zehnten Todestag, das Buch mit den gesammelten Briefen von Mutter Teresa an ihre geistlichen Ratgeber erschien, wurde dies weltweit als ein sensationelles Ereignis behandelt.[1] Die Medien stellten die spirituelle Dunkelheit, die die Ordensfrau jahrzehntelang ertragen mußte, als eine außerordentliche Entdeckung dar. Sie stehe – so empfand man – in drastischem Gegensatz zu dem Image der Seligen, die stets geistliche Freude ausgestrahlt hatte. War das nun alles Show gewesen? fragte man offen oder versteckt. Das Buch erschien, obwohl (wie das Buch selbst anfangs beschreibt) Mutter Teresa ihre Ratgeber immer wieder bedrängt hatte, ihre Briefe zu vernichten oder zurückzugeben. Sie weigerten sich, ein Großteil der Briefe blieb erhalten. Es ist verständlich und üblich, daß diese Briefe nach ihrem Tod gesammelt und für den Seligsprechungsprozess, dessen Postulator der Herausgeber des Buches, P. Brian Kolodiejchuk MC, war, geltend gemacht wurden. Aber daß sie, schon zehn Jahre nach Mutter Teresas Tod, einer breiten Öffentlichkeit zugänglich werden, ist – bei rechtem Licht betrachtet – eine Indiskretion. Daß ihre spirituelle Verzweiflung ausgebeutet wird, um das Buch kommerziell erfolgreich zu machen, ist eine Unverschämtheit. Diese inneren Zustände gehören zum Intimsten und gleichzeitig Rätselhaftesten, was ein Mensch erleben kann. Mir ist unverständlich, wie der Orden, einer solchen medialen Sensationsmache um das Buch, die in einem krassen Gegensatz zum subtilen Inhalt steht, zulassen konnte. Auf dem Umschlag der deutschen Ausgabe steht schwarz auf Goldhintergrund: „Die geheimen Aufzeichnungen der Heiligen von Kalkutta“, als handele es sich um einen Schmöker im Geiste von „Da Vinci Code“.

Mutter Teresa hatte und hat in Indien zahlreiche Verehrer, aber eben auch einige hartgesottene Kritiker, die die Ehre Kalkuttas zu retten glaubten, indem sie Gemeinheiten über die Ordensfrau ausschütteten. Sie nämlich hatte aus deren Sicht den Ruf Kalkuttas international „geschädigt“, indem sie auf die Situation der „Ärmsten der Armen“ in ihren „Höhlen“[2] der Slums aufmerksam gemacht hatte. Die Reaktion auf das Buch war entsprechend gespalten: Die Presse ließ Verehrer zu Wort kommen, die in dem Buch eine erneute Bestätigung ihrer Heiligkeit sahen. Sie legten das Schwergewicht nicht so sehr auf ihre geistige Trockenheit und seelische Dunkelheit, als auf die Tatsache, daß sie trotz jener Dunkelheit geistige Freude ausgestrahlt und ihr Werk für die Armen mit beispielloser Energie und Hingabe bis zu ihrem Tod fortsetzt hatte. Ihre Kritiker sahen in den Offenbarungen mit kaum unterdrückter Häme das Eingeständnis einer Schwäche und in ihrer Freude und Herzlichkeit eine Maske, also eine Heuchelei. Es gab außerdem zahlreiche nicht-christliche indische Stimmen zu dem Buch, die seinem Inhalt hilflos gegenüberstanden.

Bedeutsamer ist, daß auch die Schwestern, die „Missionarinnen der Barmherzigkeit“ – die ihr spirituelles Leitbild in Mutter Teresa sehen – von dieser unbekannten Seite ihrer „Mutter“ zunächst betroffen sind, sie nicht verstehen und sich befremdet fühlen. Möglicherweise kommt bei manchen Schwestern und Brüdern eine Welt ins Wanken, weil auch sie zunächst diese Dunkelheit als Unvollkommenheit und Schwäche ansehen. Nur wenige Schwestern und Brüder können die besondere theologische Bildung und geistliche Erfahrung besitzen, um den Inhalt des Buches positiv in das Lebensbild Mutter Teresas und in ihre Spiritualität einzuordnen. Sogar die deutsche Schwester Andrea, die als Ärztin das erste Waisenhaus des Ordens – Shishu Bhavan in Kalkutta – leitet, gestand mir, sie sei zunächst „erschrocken“ gewesen. An vielen anderen Schwestern und Brüdern, die zu intellektueller Reflexion nicht befähigt oder nicht an ihr interessiert sind, wird das Vermächtnis des Buches ohne Einfluß vorübergehen. Es kann sie allenfalls verwirren. Mich erstaunt, daß dieses Risiko der Verwirrung in den Ordensgemeinschaften durch diese Veröffentlichung offenbar bedenkenlos eingegangen wurde.

 

Mutter Teresas revolutionäres Werk unter den Ärmsten

Als ich die Presseberichte und die Reklame des Verlags las, argwöhnte ich, daß in ihnen die Zentralität der „Dunkelheit“ in Mutter Teresas Leben übertrieben dargestellt worden sei. Doch die Lektüre belehrte mich, daß diese Dunkelheit das Leben der Ordensfrau tatsächlich fast fünfzig Jahre lang geprägt hat. Während der zwanzig Jahre, in denen sie als Loreto-Schwester in einem Konvent wohnte und in einer christlichen Schule unterrichtete, spürte sie die liebende Vereinigung mit Jesus. Wiederholt bezeichnete die Briefeschreiberin diese Zeit als überaus glücklich. Am 10. September 1946 erhielt sie auf einer Reise von Kalkutta nach Darjeeling im Zug eine direkte Aufforderung Jesu, die Armen in den Slums zu retten. Danach vernahm sie über einen längeren Zeitraum hinweg eine „Stimme“, die dazu drängte, das Werk zu beginnen. Mutter Teresa sprach oder schrieb sehr ungern von dieser  Erstvision, feierte aber das Ereignis im Orden jedes Jahr als „Tag der Inspiration“. Einzelheiten ihrer mystischen Erfahrungen teilte sie nur einigen ihrer priesterlichen Ratgeber und Beichtväter mit. Als die Aufforderungen der Stimme dringender wurden, wandte sich Mutter Teresa an ihren geistlichen Führer, den Jesuiten Celeste Van Exem, und an den Erzbischof von Kalkutta, Ferdinand Périer, mit der Bitte, der Forderung Christi folgen zu dürfen, indem sie eine Ordensgemeinschaft in seiner Diözese gründete. Zuerst hatte sie geglaubt, der neuen Berufung als Loreto-Nonne entsprechen zu können. Ihr war ein Leben außerhalb ihres Ordens zunächst nicht vorstellbar. Doch rasch wurde ihr bewußt, daß ein Bruch mit ihrem bisherigen Leben unabwendbar war. Sie schrieb: „Absolute Armut, wie sie von Unserem Herrn so sehr gewünscht wird, wäre hier [in Loreto] gegen die Regeln – auch der fortwährende Dienst mit und unter den Ärmsten der Armen würde sich nicht damit vertragen.“ (S. 112)

Die nächsten zwei Jahre stellten die junge Nonne auf eine harte Probe. Sie mußte ihren Bischof davon überzeugen, daß ihr Wunsch, den Ärmsten in den Slums zu dienen, einem echten Ruf Gottes folgte. Périer ließ sich bewußt Zeit, um sie zu prüfen und um seine Entscheidung in Ruhe wachsen zu lassen. Doch gab er sich, nach der Anzahl und Ausführlichkeit seiner Briefe an Mutter Teresa zu urteilen, außerordentlich viel Mühe, um ihr die Wartezeit zu erklären und sie zu trösten. Mutter Teresas Briefe wurden immer drängender, weil sie ihrem inneren Ruf nicht mehr ausweichen konnte. Am 8. August 1948 wurde sie schließlich exklaustriert. Das heißt, sie erhielt die Erlaubnis, außerhalb des Loreto-Konvents zu leben. Damit konnte sie ihr neues Werk beginnen. Sie gründete ihren eigenen Orden, die Missionaries of Charity (MC), der zunächst dem Erzbischof von Kalkutta unterstellt war und 1965 von Rom anerkannt wurde. Mutter Teresa begann ihr Werk mit nur wenigen Gefährtinnen. Zwei Jahre später war die Zahl der Mitglieder schon auf zwölf gestiegen. Der Zuwachs war stetig, aber er wurde erst sprunghaft, als Mutter Teresa als exemplarische Missionarin bekannt wurde.

Erzbischof Périer und Pater Van Exem begleiteten die Ordensfrau weiterhin. Sie scheinen die wesentlichen Berater der Gründerzeit gewesen zu sein. Er blieb bis 1960 Erzbischof und starb 1968. P. Celeste Van Exem half entscheidend beim Aufbau der neuen Gemeinschaft und war auch deren Beichtvater. Er starb 1993. Ab 1956 wurde ein weiterer Jesuit, P. Lawrence Picachy, für Mutter Teresa und ihre Schwestern bedeutsam. Er wurde versetzt, kehrte aber später als Erzbischof und Kardinal nach Kalkutta zurück. Er wurde Mutter Teresas Beichtvater und ein Exerzitienmeister des Ordens; an ihn schrieb Mutter Teresa zahlreiche Briefe. Als sie schon weltbekannt war, viel reisen mußte, was ihr beides gewaltige Opfer abverlangte, und sich um die Verwaltung eines großen Ordens bemühte, lernte sie den österreichischen Jesuiten Josef Neuner kennen, der in der Nähe von Kalkutta ab 1960 Vorlesungen am Priesterseminar hielt. Ihr Briefwechsel, der wieder wesentlich das Mysterium jener Erfahrung der Dunkelheit und trostlosen Leere umkreiste, brachte Mutter Teresa auf neue Gedanken. Pater Neuner interpretierte Mutter Teresas Seelenleben nicht negativ als Läuterung und Sühne, sondern als besondere Gottesnähe (siehe S. 250). Diese Dunkelheit nicht nur zu ertragen, sondern zu lieben, sei – so Neuner – ihre besondere Aufgabe (siehe S. 253). Der Briefkontakt mit dem Theologen dauerte bis 1980, obwohl die wichtige Phase ihres Austauschs nach einem Jahrzehnt vorüber war. Im Jahr 1975 wurde durch eine Zufallsbegegnung in Rom der niederländische Herz-Jesu-Priester Michael van der Peet SCJ ein wichtiger Gesprächs- und Briefpartner für Mutter Teresa sowie Exerzitienmeister des Ordens. In ihm fand die Nobelpreisträgerin wieder jemanden, dem sie sich öffnen konnte.

Mutter Teresa hat in keinem ihrer Briefe Zweifel an ihrer Berufung ausgedrückt. Im Gegenteil, sie betonte stets, daß sie sich ihres anfänglichen spirituellen Erlebnises sicher sei. Die erstaunlichen Früchte, die ihr Werk hervorbrachten, gaben ihr überdies Recht, worauf ihre geistlichen Begleiter stets hinwiesen. Zweifel an und Verzweiflung über ihr Werk waren also nicht die Ursache ihrer inneren Dunkelheit. Doch hat sich diese Sicherheit, mit der sie ihren Orden organisatorisch und ihre Schwestern geistlich führte, nicht auf ihr Gebetsleben übertragen können. Bis zuletzt führte sie dieses Werk trotz aller Widerstände durch ihr gequältes Seelenleben fort.

Bei der Lektüre der Briefe erkennt man deutlich, wie revolutionär Mutter Teresas Werk innerhalb der katholischen Kirche ihrer Zeit gewesen ist. Damals dienten Klerus und Ordensleute – meist noch Missionare aus Europa und Nordamerika – der Bevölkerung durch Schulen, Krankenhäuser und andere soziale Einrichtungen. Doch lebten sie von der Bevölkerung getrennt, hielten sich fern von ihr, wobei gewiß auch feudalistisch geprägte Überheblichkeit mitspielte. Die sozialen Werke in den Städten galten der Mittel- und Oberschicht, denn sie waren teuer und gehörten zu den Elite-Einrichtungen des Landes. Die katholische Kirche wollte (und will noch immer) ihre Stimme in Indien hörbar machen, indem sie in Prestige-Institutionen die Elite von Verwaltung, Regierung und Akademia und deren Kinder, also die gegenwärtigen und zukünftigen Meinungsmacher des Landes, an sich heranzieht. Die Kirche folgte dem Lebensstil der britischen Kolonisatoren und etablierte für ihre ausländischen Missionare einen Lebensstil, der dem Europas und Amerikas vergleichbar war. Dies war die Situation, als Mutter Teresa vor rund sechzig Jahren den Ruf empfing. In den ersten zwanzig Jahren ihres Ordenslebens  unterrichtete auch Mutter Teresa in der Großstadt Kalkutta die höheren Töchter der Gesellschaft und besaß im Vergleich zur allgemeinen Bevölkerung einen gehobenen Lebensstandard. Inzwischen hat sich durch den allgemeinen Bewußtseinswandel hin zu demokratischen Normen der Gerechtigkeit und Gleichheit sehr viel in der indischen Kirche geändert, wenn auch die Überreste der feudalistischen Mentalität nicht zu übersehen sind.

Mutter Teresa war die Pionierin, die aus diesem materiell abgesicheren, privilegierten Kreis der Kirche ausbrach, um sich den Lebensbedingungen der Armen in den Slums auszusetzen. „Alle werden mich für verrückt halten“, umschrieb sie die Ungewöhnlichkeit ihrer Berufung. (S. 66) Ihre Anfangserkenntnis war: „Unser Herr möchte [...] indische Schwestern, die das Leben der Inder führen, sich wie diese kleiden und Sein Licht werden, Sein Feuer der Liebe inmitten der Armen, der Kranken, der Sterbenden, der Bettler und der kleinen Straßenkinder.“ (S. 91) Ihr Ziel hieß: „Direkt unter die Armen gehen – Die Kranken in ihren Wohnstätten pflegen – Den Sterbenden helfen, ihren Frieden mit Gott zu machen.“ (S. 91) Dabei war sie sich durchaus bewußt, daß sie einen Platz in der Kirche ausfüllte, der bisher leergeblieben war. Darum nennt sie als ein Ziel: „… die Arbeit tun, die in der Kirche Indiens fehlt.“ (S. 92)

Durch ihr Beispiel entdeckte die Kirche die „Option für die Armen“. Sie muß insofern als Vorläuferin der „Befreiungstheologie“ betrachtet werden, wenn auch ihr theologischer Ansatz ein ganz anderer ist. Sie selbst sah sich nämlich nicht als eine Sozialrevolutionärin, noch haben ihre Ratgeber dieser Perspektive Raum gegeben. Diese waren einzig darum besorgt, ob Mutter Teresa und ihre Schwestern der Härte dieses Lebens unter den Armen gewachsen waren und seelisch keinen Schaden nahmen. Mutter Teresa folgte zunächst und vor allem dem Ruf Gottes, nicht einem für ihre Zeit ungewöhnlich geprägten Sozialgewissen. Die Not der Armen erschütterte sie tief, wovon auch diese Briefe Zeugnis geben. Doch dabei ging es ihr wiederum zunächst und vor allem um diese Armen als „Seelen“, die gerettet oder für Gott gewonnen werden mußten. Sie sann nicht auf die Veränderung allgemeiner sozialer Verhältnisse.

Mutter Teresa erläuterte: „Wir werden nur sehr wenig brauchen – denn mit der Gnade Gottes haben wir ja vor, bis ins kleinste Detail in absoluter Armut zu leben …“ (S. 96) Diese Vorstellung, wie die Ärmsten zu leben, um sich mit ihnen zu solidarisieren, ist allerdings nicht verwirklicht worden, und sie kann auch nicht verwirklicht werden. Sie romantisiert und verklärt die Lebensumstände der Ärmsten und diese Armen selbst. Für Außenstehende, etwa für Spender und Förderer im Ausland, mag sie anziehend sein. Doch tiefer bedacht, kann es nicht das Ziel der Schwestern sein, etwa unterernährt zu sein und sich durch Vernachlässigung der Hygiene freiwillig zahlreichen Krankheiten auszusetzen. Zur Situation der Armut gehört auch, sich aus Unwissen und Gleichgültigkeit nicht aus dieser leidvollen Armut befreien zu wollen (was teilweise immer möglich wäre), ebenso (als Ausdruck der Verzweiflung und Not) Streit in den Familien, die Tendenz zu Alkoholkonsum und Kriminalität. Ziel muß vielmehr sein, mit den Ärmsten so viel wie möglich zu teilen, gleichzeitig ihnen beispielhaft ein genügsames, erstrebenswertes Leben vorzuleben und ihnen dazu, wie auch immer möglich, zu verhelfen. Von Anfang haben die Schwestern, wie diese Briefe auch bestätigen, in einfachen, aber soliden und sauberen Häusern gewohnt, nicht in den Slums.

Der Begriff „Seelen retten“, in unserer heutigen Sprache – selbst der erbaulichen, frommen – ungebräuchlich geworden, dominiert die erste Hälfte des Buches. Was sie damit genau meinte, gab Mutter Teresa jedoch nicht zu erkennen. Meinte sie damit eine Bekehrung zum katholischen Glauben durch die Taufe? Meinte sie allgemeiner eine Erlösung aus Sündhaftigkeit? Eine Befreiung aus sozialer Not, von Hunger, Krankheit und Schmerzen? Meinte sie eine liebende Zuwendung im Geist der christlichen Nächstenliebe, die alle Menschen gleich wertvoll achtet? – Das Wort „Bekehrung“ gebrauchte Mutter Teresa in ihren Briefen nie, auch nicht im metaphorischen Sinn, etwa wie „Bekehrung der Herzen“. Dennoch konnte zunächst nichts anderes gemeint sein, als eine Verchristlichung der Menschen, zumal sie häufig erwähnte, daß man die Seelen aus der „Sünde“ erretten müsse. Und das heißt eine Errettung durch die Taufe. Diese Option der Taufe wurde aber auch kein einziges Mal erwähnt. Nie schrieb sie von Getauften oder Bekehrten, die sie gewonnen habe.

Der Vorwurf, sie habe die Kranken und Sterbenden, die Kleinkinder und Waisen, die in ihren Heimen leben, ausgenutzt, indem sie und ihre Schwestern sie getauft und ins christliche Leben eingeführt hätte, ist der lauteste und drohendste, den Mutter Teresas Gegner unter den Hindus ausgesprochen haben. Darum hatte ich gehofft, in diesen privaten Briefen Aufschluß über ihre wahre Meinung und ihre Praxis zu erhalten. Denn in den Jahrzehnten ihres Ruhms hatte sie häufig öffentlich beteuert (beteuern müssen?), daß sie keine Bekehrungen zum Christentum anstrebe. Ein Hindu solle ein besserer Hindu werden, ein Muslim ein besserer Muslim und so weiter. Meine Beobachtungen in den zahlreichen Häusern des weiblichen und männlichen Zweigs des Ordens, die ich in mehreren Regionen Indiens besucht habe, zeigten mir, daß die Schwestern und Brüder niemanden zur Taufe drängen und niemanden methodisch zur Annahme der Taufe vorbereiten. Die Menschen jedoch, die ihnen anvertraut sind, vor allem die Kinder und die Waisen, können am christlichen Leben der Schwestern teilnehmen. Sie werden im christlichen Geist durchs Leben geführt, was niemand den Schwestern verübeln kann.

In ihren Briefen grenzt Mutter Teresa die Frage aus, durch welche sozialen Strukturen die Armut der Slums entstehen konnte. Stichworte wie Unterdrückung und Ausbeutung, Feudalismus und Gerechtigkeit durch soziale Strukturänderungen finden in ihrem Denken und Handeln keinen Platz. Sie reagiert auf die Situation von Hungernden und Kranken franziskanisch: indem sie ihnen für den heutigen Tag Nahrung und Heilung schenkt. Nach der Ursache der Situation, nach persönlichem oder sozialem Verschulden fragt sie nicht. Das ist die Erkenntnis, die man aus den Briefen, und ebenso aus anderen Dokumenten und Schriften ihres Lebens gewinnt. Diese Haltung ist häufig angegriffen, auch belächelt worden, zumal Mutter Teresa sie zur Grundlage der Tätigkeit einer großen Organisation, wie ihr Orden sie darstellt, macht. Doch solange diese Hungernden und diese Kranken am heutigen Tag nicht vom gesellschaftlichen System, von dem sie auch Teile sind, geholfen werden kann, ist die Haltung unangreifbar.

Ebenso ist in diesen Briefen keine historische Einbindung ihres Lebens und ihres Werkes zu spüren. Mit Ausnahme von zwei oder drei Bemerkungen reflektieren ihre Briefe nicht die epochalen Entwicklungen Indiens: den Kampf um die politische Unabhängigkeit, die Unabhängigkeit im Jahr 1947 und die Spaltung des indischen Subkontinents in Indien und Pakistan, bei der mehrere Millionen von Hindus und Muslimen massakriert wurden, den Weg Indiens als armes Entwicklungsland. Man mag dagegen halten, daß diese Themen in Briefen an geistliche Ratgeber keinen Platz haben. Und doch geben auch diese historischen Entwicklungen geistliche Probleme auf, die Mutter Teresa aber offenbar nicht berührten.

 

Mutter Teresas Ringen um Gott

„Komm, sei mein Licht“ ist eine erschütternde, aufwühlende Lektüre. Man erlebt das Ringen einer Frau, die den Willen Gottes in allem und unmittelbar zu erfüllen sucht, ohne jede Rücksicht auf sich selbst, ohne jede Forderung an Gott. Ihr Ringen richtet sich nicht darauf, den Willen Gottes zu erkennen, sondern den einmal erkannten Willen in allem zu entsprechen. Nachdem sie als Loreto-Schwester in innerer Einheit und innerem Frieden mit Jesus gelebt hatte, schrieb sie in ihren Briefen nach Beginn ihres Werkes immer wieder und beinahe in jedem Brief von ihrer spirituellen Trockenheit, ihrer Dunkelheit, ihrer Einsamkeit ohne Gott, ihrer geradezu unerträglichen, ungestillten Sehnsucht nach Gott. Erst nach Jahrzehnten schien sie mit dieser Sehnsucht leben zu können, nachdem ihr durch den Zuspruch ihrer Begleiter deutlich geworden war, daß sich Gott gerade in dieser Dunkelheit mitzuteilen sucht. Schließlich lernte Mutter Teresa, wie oben erwähnt, diese Dunkelheit zu „lieben“.

Mehrmals war von den Lehren des hl. Johannes vom Kreuz die Rede, der die inneren Läuterungsprozesse in psychologisch genauen Einzelheiten beschreibt und dafür die Begriffe der „dunklen Nacht der Sinne“ und „dunklen Nacht des Geistes“ geprägt hat. In diesen „Nächten“ reinigt der Mensch mit der Gnade Gottes zunächst seine Sinne, danach den Geist, um nach dieser Erfahrung der Abwesenheit Gottes schließlich die Erfahrung der Einheit mit Gott zu genießen. Diese „Nächte“ sind Übergangsstufen – bei Mutter Teresa jedoch dauerten sie vermutlich bis zum Tod. Dies erschütterte auch ihre geistlichen Begleiter und Beichtväter und hat sie geradezu ratlos gemacht. Mutter Teresas Nacht wurde nur einige Male von geistlicher Freude und dem Empfinden des Friedens unterbrochen. In späteren Jahren hat sie häufig mit ihren Begleitern sprechen wollen, und als sie erschienen, konnte sie nichts sagen. Sogar die Worte, um ihren Zustand zu beschreiben, waren ihr abhanden gekommen. (siehe S. 297) „Mein eigenes Leben scheint so widersprüchlich“, klagte sie Pater Neuner. „Ich helfe den Seelen – wohin zu gehen? – Warum das alles? Wo ist die Seele in meinem eigenen Sein? Gott will mich nicht.“ (S. 245) Im selben Brief aus dem Jahr 1961 notierte sie aber auch: „Trotzdem bricht irgendwo tief in meinem Herzen diese Sehnsucht nach Gott durch die Dunkelheit hindurch. Wenn ich draußen bin – bei der Arbeit –oder wenn ich mich mit Leuten treffe –ist dort eine Gegenwart –von jemand Lebendigem ganz nahe – in mir.“ (S. 246)

Daraus mag man schließen, daß gerade diese brennende Sehnsucht nach Gott eine Erfahrung der göttlichen Gegenwart evoziert hat. Dies ist vergleichbar mit einer im hinduistischen Vishnuismus bekannten Lehre. Nach ihr ist der Höhepunkt der Beziehung zwischen Mensch und Gott nicht in Phase der ekstatischen Vereinigung erreicht, sondern in der Vorstufe dazu, nämlich der intensivsten Sehnsucht nach der Vereinigung.

Man mag spekulieren, daß die Dunkelheit ausgelöst wurde, weil Mutter Teresa tagtäglich mit der unsäglichen Not der Armen in Kalkutta konfrontiert wurde. Um diese Not innerlich zu verarbeiten, um sie in den Plan Gottes für die Menschen zu integrieren, bedurfte es heroischer seelischer Anstrengungen, die sich möglicherweise in jener Dunkelheit auswirkten. Ihr letzter geistlicher Begleiter, Pater Michael van der Peet SCJ, sah es allerdings genau umgekehrt: „Ich glaube wirklich, dass der Grund, weshalb Mutter Teresa so viel Dunkelheit in ihrem Leben durchmachen musste, darin liegt, dass dies eine größere Identifikation mit den Armen mit sich bringen würde.“ (S. 320). Mit anderen Worten, Gott hielt Mutter Teresa im Dunkeln, damit sie das menschliche Leid der Armen vollkommen nachempfinden könne.

Die Lektüre erschüttert durch die ständige, insistierende Wiederholung der Umschreibungen des gleichen seelischen Zustands. Über Jahrzehnte ändern sich die Vokabeln nicht. Mutter Teresa verfügte über einen denkbar einfachen Stil mit begrenztem Wortschatz. Sie wählte ihre Worte nicht, suchte keine neuen Möglichkeiten, sich verständlich zu machen. Ihre Briefe entstanden offensichtlich in einem einzigen raschen Gedanken- und Gefühlsfluß. Ihre wortschöpferische  Fähigkeit, die sie in ihren Ansprachen an ein öffentliches Publikum entwickelte, fehlt in den Briefen. Für die Öffenchkeit konnte sie ihre Spiritualität in knappen, zutreffenden Merksätzen und Gebeten ausdrücken. Die Briefe sind sprachlich vom Beginn bis ins Alter von einer Missionsspiritualität geprägt, die zu Beginn ihres Ordenslebens um 1930 zur normalen theologischen Ausrüstung gehörte, heute jedoch restlos veraltet klingt. Dieses sprachliche Bestehen auf Opfer, auf Leidenwollen und Leiden, auf Heiligung und Seelen retten, auf die Klerikalität der Kirche, auf jesuanische und marianische Frömmigkeit paßt nicht in unsere Zeit, selbst wo die Inhalte heute gleich oder ähnlich sein mögen. Diese Sprache steckt voller Frömmigkeits-Klischees, ist bewußt anti-intellektuell und richtet sich eher auf die Quantität von Gebeten und weniger auf ihre Intensität. In diese Missionsmentalität vierhundert Seiten lang einzutauchen, ist für uns heute anstrengend. Trotz dieser inneren Abwehr von der Echtheit von Mutter Teresas Willen und ihrer seelischen Not erschüttert zu werden, macht den besonderen Wert des Buches aus.

Bei der Lektüre müssen wir bedenken, daß Mutter Teresa in ihren Briefen nicht das gesamte Spektrum ihrer Spiritualität ausbreitet. Die Briefe handeln beinahe ausschließlich von ihrer Beziehung zu Gott. In ihren zahlreichen Ansprachen, Gebeten und Interviews, die in anderen Büchern veröffentlicht wurden, in ihren Exerzitien für die Schwestern und Brüder ihres Ordens (einige Mitschriften kursieren hektographiert unter den Ordensmitgliedern) spricht sie andere Aspekte des religiösen Lebens an, bei denen von Dunkelheit und geistiger Not nicht die Rede ist. Um Mutter Teresa als geistliche Persönlichkeit zu erfassen, ist es unerläßlich, beides zusammen zu sehen.

Der Widerspruch jedoch, daß Mutter Teresa Freude und geistliche Erfüllung ausstrahlte, von der sich zahllose Menschen berührt und verwandelt gefühlt haben, in ihrem Innern jedoch nur Trostlosigkeit spürte, ist unauflöslich. Die Ordensfrau klagte: „Wenn sie [die Menschen] nur wüssten – und wie meine Fröhlichkeit nur der Deckmantel ist, unter dem ich die Leere & das Elend verberge.“ (S. 219) An diesem Widerspruch zu deuteln und ihn letztlich zu harmonisieren, würde bedeuten, die Rätselhaftigkeit von Gottes Willen auflösen zu wollen. Mutter Teresa war eben nicht (nur) diese „einfache Nonne“, als die sie sich selbst stets darstellte. Ihre Persönlichkeit war komplexer und vielschichtiger, als ihr vielleicht selbst bewußt war. Aber gerade darum gewinnt sie durch das Bekanntwerden dieser Briefe an Tiefe und Bedeutung, besonders auch für unsere Epoche, die die gebrochenen Helden höher schätzt, als die glatten und geradlinigen. Und gerade weil sie diese einfache Nonne nicht war, werden ihre Ordensmitglieder und Anhänger mit großer Anstrengung umdenken müssen, um an diesem neu erschaffenen Vorbild zu wachsen. Für sie ist dieses Buch eine enorme Herausforderung an ihre spirituelle Reife.

 

Dokumentation oder Erbauung?

Brian Kolodiejchuk, der Herausgeber dieser Briefesammlung, wurde 1956 in Kanada geboren und begegnete Mutter Teresa zum ersten Mal als junger Mann von 21 Jahren. Als Priester war er einer der Mitbegründer des männlichen Zweigs der „Missionaries of Charity“. Er arbeitete unter Drogensüchtigen und AIDS-Kranken in New York. Heute wirkt er in Mexiko. Als Postulator beim Heiligsprechungsprozess hatte er Einblick in die gesammelten Privatbriefe und Dokumente und war darum prädestiniert, dieses Buch herauszugeben. Einen Zweifel an der Weisheit dieser Entscheidung habe ich anfangs ausgesprochen.

Hier geht es um die Leistung als Herausgeber. Nach einer Einführung veröffentlicht Kolodiejchuk die Briefe und von Mutter Teresa verfaßten Ordensdokumente in chronologischer Reihenfolge. Er beschränkt sich auf die ihm relevant erscheinenden Passagen eines jeden Briefes und fügt dazwischen überleitende Kommentare ein. Darin bestimmt Kolodiejchuk Ort und Zeit vieler dieser Dokumente und stellt sie in einen sinngemäßen Zusammenhang. Hätte er es doch dabei gelassen! Statt dessen strengt er sich an, die Briefe auch geistlich zu interpretieren. Damit verschiebt er das Schwergewicht vom Genre der Dokumentation zu dem eines Erbauungsbuches. Wollte der amerikanische Verlag es so, um mehr Leser zu gewinnen? Der Herausgeber faßt die Briefe zusammen und paraphrasiert sie und vergleicht sie in einer frommen, andachtsvollen Sprache, die der von Mutter Teresa abgeschaut ist. Anstatt als Mensch des 21. Jahrhunderts zu analysieren und zu differenzieren, betreibt er weihräuchernde Hagiographie alten Stils. Dabei haben die Briefe als Dokumente ihr eigenes Gewicht. Mutter Teresa glorifizierend noch bedeutender machen zu wollen, zerredet die Dokumente nur. Der Herausgeber versäumt es, Werk und Person von Mutter Teresa in einen modernen Kontext zu stellen, um beides für uns heute relevant zu machen, was anhand der Briefe jetzt leichter und wesentlicher möglich ist, als vor dieser Veröffentlichung. Am besten hätte er die Briefe für sich sprechen lassen.

Die Quellen zahlreicher Zitate, insbesonders aus dem späteren Leben, sind nicht hinreichend dokumentiert. Es wird genannt, wer die Aussage macht, jedoch nicht, wann und wo. Handelt es sich hierbei um mündliche Aussagen? Das Buch enthält sowohl Endnoten wie Fußnoten, ohne daß klar wird, was die einen von den anderen unterscheidet. Die Endnoten sind unsystematisch und fehlerhaft. Das ganze Geschäft einer hieb- und stichfesten Dokumentation ist Brian Kolodiejchuk unbekannt und vielleicht auch gleichgültig. Für die geistige Erbauung ist dieses Geschäft in der Tat irrelevant. Nicht aber für die zahlreichen Autoren, die mit Hilfe dieses Buches eine neue, eine echtere und differenziertere Spiritualität Mutter Teresas theologisch formulieren möchten und ihre Biographie umschreiben müssen. Wenn sich der Orden also entschlossen hat, die Briefe zu veröffentlichen, warum dann nicht mit dem höchsten Anspruch an dokumentarischer Genauigkeit und Vollständigkeit?

Die deutsche Übersetzung ist allzu hastig entstanden, besonders die Lektorierung läßt sehr zu wünschen übrig. Der Verlag sollte sich die Mühe machen, in einer zweiten Auflage die Fehler, die auf fast jeder Seite vorkommen, zu korrigieren.

Martin Kämpchen, Santiniketan / Indien

 


[1] Die englischsprachige Ausgabe „Come, be my light“ (Doubleday Broadway Publishing Group / Random House, New York 2007) wurde von dem Herausgeber, Pater Brian Kolodiejchunk, am zehnten Todestag, dem 5. September 2007, in Kalkutta vorgestellt. Auch die deutsche Ausgabe (Mutter Teresa: „Komm, sei mein Licht“. Aus dem Amerikanischen von Katrin Krips-Schmidt. Pattloch Verlag, München 2007) erschien ungefähr zeitgleich mit der englischsprachigen. – Seitenzahlen im Text beziehen sich auf die deutschsprachige Ausgabe.

[2] „Höhlen“ oder „Löcher“ waren Mutter Teresas oft benutzte Ausdrücke für die menschenunwürdigen Wohnungen der Armen in den Slums.

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