Was westliche Menschen an Indien fasziniert (Katholische Akademie München)

[Kath. Akademie München 6.2.2009]

Was westliche Menschen an Indien fasziniert

von Martin Kämpchen

Die Frage, was „westliche Menschen“ an Indien fasziniert, ist zu weit gefaßt, als daß sie allgemein beantwortet werden  könnte. Europa ist in verschiedene Nationen aufgeteilt und besitzt entsprechend unterschiedliche Sprachen, Kulturen und politisch-soziale Entwicklungen. Auf jeden Kulturkreis Europas hat Indien anders gewirkt. Auf Amerika hat Indien einen von Europa distinktiven Eindruck gemacht. Es ist offensichtlich nicht die Aufgabe dieses Überblicks, diese unterschiedlichen Reaktionen auf Indien darzustellen. Allgemein spreche ich nur die Vermutung aus, daß es im wesentlichen zwei unterschiedliche Reaktionen gibt, nämlich eine kulturell-religiöse und eine politisch-wirtschaftliche. Jene Länder, die Indien zunächst als Kolonisatoren und Handelspartner betreten haben, haben sich von Indien in einer bestimmten Weise angezogen gefühlt. Dazu gehören die Portugiesen, die Franzosen, die Holländer und die Engländer.

Andere Länder, wie eben Deutschland, haben niemals politische und zunächst auch keine wirtschaftlichen Interessen an Indien gehegt. Ihr Blick war frei für das Kulturelle, das Weltanschauliche, für die Lebensweise. Darüber später mehr.

Beide genannten Ländergruppen haben christliche Missionare nach Indien entsandt. Die kolonisierenden und handelsführenden Nationen haben sehr bald nach der Etablierung ihrer Stützpunkte Missionare nach Indien geschickt. Es versteht sich, daß die erste Phase der Missionierung eher der Faszination Indiens zu widerstehen suchte, um den eigenen Glauben, also die Faszination des Christentums, durchzusetzen. Erst später kam es dazu, daß sich italienische Missionare in Südindien von der Bedeutung des Hinduismus und der Lebensweise der Hindus einnehmen ließen und begannen, sie nachzuahmen. Ende des 18. Jahrhunderts fingen William Jones und nach ihm andere britische Kolonialbeamtte in Indien an, die indischen heiligen Schriften zu entdecken, sie zu erschließen und in Übersetzungen herauszugeben. Diese Tätigkeit setzt sich seitdem fort und hatte zum Beispiel in dem deutschen Gelehrten Max Müller einen prominenten Vertreter. Er gab die „Sacred Books of the East“ heraus, eine fünfzigbändige Sammlung von wesentlichen Schriften der großen asiatischen Religionen in englischer Übersetzung. In Nachdrucken ist das Werk bis heute zugänglich.

Es dauerte noch bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, bevor europäische und amerikanische Missionare bereit waren, in größerem Umfang und mit mehr theologischem Tiefgang die Schätze des Hinduismus in ihrem religiösen und kulturellen Wert kennenzulernen und anzuerkennen.

Vergleichen wir also die Weisen, wie die Kolonialmacht England und wie Deutschland auf Indien reagiert haben, sehen wir einen wesentlichen Unterschied. England reagierte pragmatisch, mit dem Ziel, zu beherrschen. Deutschland reagierte idealistisch-weltanschaulich mit dem Ziel, selbst kultiviert zu werden, selbst zu lernen. England war sich der zivilisatorischen Werte der britischen Kultur, Gesellschaft und seines politischen Systems bewußt und versuchte, diese Werte, mit diplomatischem Geschick, aber selbstbewußt, in diese andersgeartete Welt des Hinduismus einzuführen. Deutschland war, als es Indien entdeckte, europamüde und suchte nach Werten, die die europäischen ersetzen oder ergänzen konnte, und fand sie in den indischen.

Wesentlich ist bei diesem Vergleich, daß England mit einem Indien zu tun hatte, das viele seiner Bewohner realiter kannten, in dem sogar viele seiner Bewohner längere Zeit gelebt hatten und noch lebten. In Deutschland stützte man sich jedoch auf eine Erfahrung Indiens, die aus Büchern geschöpft war. Um 1800, als die Romantiker Indien als ideelle Alternative zu Europa beschworen, besuchte keiner der romantischen Schriftsteller und Philosophen selbst Indien. Ihre Kenntnisse von Indien kamen aus den hinduistischen Schriften, die meist nur über andere Sprachen, etwa über das Lateinische, ins Deutsche übersetzt zugänglich waren. Trotz dieser – oder gerade wegen – dieser recht spärlichen Kenntnisse konnten die Romantiker Indien als eine weltanschauliche Gegenwelt zu Europa aufbauen.

Was faszinierte sie an Indien?

Johann Gottfried Herder, der die Entstehung der Brahmanen ergründete, rühmte die Inder wegen ihrer „Sanftmuth, Höflichkeit, Mäßigung und Keuschheit“[1]. Und weiter schreibt Herder: „Ungezwungen-zierlich sind ihre Gebehrden und Sprache, friedlich ihr Umgang, rein ihr Körper, einfach und harmlos ihre Lebensweise. […] Die Haupt-Idee der Brahmanen von Gott ist so groß und schön, ihre Moral so rein und erhaben […]“[2], daß er die Ungeheuerlichkeiten, die die Missionare erzählten, nicht glauben könne.

Zum Lobpreis des „Indertums“ rief Herder aus: “Dort Morgenland! die Wiege des Menschengeschlechts, menschlicher Neigungen und aller Religion!”[3] Und an anderer Stelle schrieb Herder: “Morgenland, du … recht auserwählter Boden Gottes! die zarte Empfindlichkeit dieser Gegenden, mit der raschen, fliegenden Einbildung, die so gern alles in göttlichen Glanz kleidet: Ehrfurcht vor allem, was Macht, Ansehn, Weisheit, Kraft, Fußstapfe Gottes ist …”[4] Das alte Indien empfand Herder als das “Goldene Zeitalter kindlicher Menschheit”. Alles Kindlich-Reine, Ursprüngliche, “Naive” im besten Wortsinn schien ihm aus Indien zu stammen. Der Inder könne noch staunen, sich verwundern, während ihm Europa “kalt” erschien.

Diese Indien-Faszination setzte den Ton für die deutschen Romantiker. Ihnen schien Indien – wohlgemerkt, das ideale Indien ihrer Phantasie – am ehesten ihre Ideen romantischer Lebensgestaltung zu verkörpern. Einerseits bot ihnen ihre Indien-Vorstellung eine Möglichkeit, ihre Abneigung gegenüber dem Verstandes- und Nützlichkeitsdenken der Aufklärung zu artikulieren. Anderseits wurde Indien eine Flucht vor der als unbefriedigend empfundenen Gegenwart. Die Romantiker, die die Poetisierung aller Lebensbereiche anstrebten, sahen in Indien das Symbol für alles Poetische. Die Indien-Begeisterung in der Literatur drückte sich als Sehnsucht nach Ferne aus, nach metaphysischer wie physischer Entgrenzung der Horizonte, nach dem Aufbrechen aller Formen.

Heinrich Heine dichtete zum Ende der Romantik:

 

Auf Flügeln des Gesanges,

Herzliebchen, trag ich dich fort,

Fort nach den Fluren des Ganges,

Dort weiß ich den schönsten Ort.

 

Dort liegt ein rotblühender Garten

Im stillen Mondenschein;

Die Lotosblumen erwarten

Ihr trautes Schwesterlein.

 

Die Veilchen kichern und kosen,

Und schauen nach den Sternen empor;

Heimlich erzählen die Rosen

Sich duftende Märchen ins Ohr.

 

Es hüpfen herbei und lauschen

Die frommen, klugen Gazelln;

Und in der Ferne rauschen

Des heiligen Stromes Welln.

 

Dort wollen wir niedersinken

Unter dem Palmenbaum,

Und Liebe und Ruhe trinken,

Und träumen seligen Traum.[5]

 

In perfekter romantischer Sprachmanier projiziert dieses Gedicht die Poetisierung des Lebens an das Ufer des Ganges. Es ist so geschliffen, daß es leicht ironisch wirkt. Zwischen dem Vorbereiter der Romantik Herder und ihrem Vollender Heine haben sich alle Großen der Romantik mit Indien beschäftigt und dadurch poetischen wie metaphysischen Trost empfangen – Friedrich Schlegel, August Wilhelm Schlegel, Friedrich Rückert, Novalis, bis hin zu den Philosophen Schelling und Schopenhauer.

Diese Maßlosigkeit der Bewunderung wurde allerdings von den romantischen Denkern eingeschränkt. Ihre Vorliebe für Indien begann rasch in solide Bahnen wissenschaftlicher Beschäftigung mit indischer Geschichte, indischen Sprachen und philosophischen Texten zu münden. Im Jahr 1818 wurde in Bonn der erste Lehrstuhl für Indologie eingerichtet, und August Wilhelm Schlegel hatte ihn lange Jahre inne. Außer in England blühte besonders in Deutschland das Fach Indologie.

Nach der Romantik rollte Anfang dieses Jahrhunderts eine zweite “Indienwelle” und nach dem letzten Weltkrieg eine dritte über Deutschland.

Interesse an Indien als Idee ist also nicht historisch beschränkt, ist keine bloße Mode, die kommt und verschwindet. Eher entspricht das ideelle Indien einer philosophisch-religiösen Denk- und Empfindungsart. Zwar ist vom Beginn der Indien-Begeisterung bis heute das wirkliche Indien niemals mit dieser Denk- und Empfindungsart identisch gewesen. Doch offenbar hat das wirkliche Indien empfindsame Geister Europas genügend inspiriert, um diese Denkart über die Jahrhunderte lebendig zu halten.

Die irrationale Liebe zu Indien als einer Idee hat unsere kritische Zeit als “Orientalismus” bezeichnet. Der Begründer der Orientalismus-Forschung, Edward Saïd, charakterisiert den Orientalismus so: “Der Orient ist fast eine europäische Erfindung… , er war seit der Antike ein Ort der Romantik, des exotischen Wesens, der besitzergreifenden Erinnerungen und Landschaften, bemerkenswerter Erfahrungen… [Der Orient ist für Europa der Ort] eines seiner ältesten und am häufigsten wiederkehrenden Bilder des Anderen…”[6]

Vergessen wir nicht, daß immer wieder Gegenströmungen aufgekommen sind, die dieses Indienbild in Frage gestellt haben. Während der Romantik taten dies insbesondere der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel und der politische Denker Karl Marx. Hegel kritisierte die “Indomanie” der Deutschen und verkündete, daß nicht im vergangenen Goldenen Zeitalter Indiens der Gipfel der Menschheitsgeschichte zu suchen sei, sondern in den kulturellen Leistungen Europas, das die Menschheit auch in Zukunft zu weiteren Höhepunkten führen werde.

Hermann Hesse fuhr 1911 nach Asien, mußte jedoch wegen schlechter Gesundheit seine Schiffsreise abbrechen und schleunigst zurückkehren. Das indische Festland bekam er nie zu Gesicht; gern hätte er Südindien besucht, wo seine Mutter geboren worden war, wo Vater und Großvater jahrzehntelang als Missionare gewirkt hatten. Doch fuhr er, von seinen Asien-Erlebnissen enttäuscht, geradewegs nach Europa zurück. Er bekannte, daß er von der polaren Gegenüberstellung von dem “verehrten Osten und dem kranken, leidenden Westen”[7] abgekommen sei. Hesse schrieb: “Ich wußte, daß es, in Europa wie in Asien, eine unterirdische, zeitlose Welt der Werte und des Geistes gibt, die nicht durch die Erfindung der Lokomotive und nicht durch Bismarck umgebracht worden war, und daß es gut und richtig war, in dieser zeitlosen Welt, in diesem Frieden einer geistigen Welt zu leben, an der Europa und Asien, Veden und Bibel, Buddha und Goethe gleichen Teil hatten.”[8] Hesse zog es also vor, das ideale Indien zu ehren, anstatt sich mit der indischen Wirklichkeit verstören zu lassen.

Von allen Indien-fahrenden Schriftstellern gelang es Stefan Zweig wohl am wenigsten, dieser Reise einen Wert abzugewinnen. In seinem Benares-Essay bekannte Zweig: “Fremdheit, unüberwindliche Fremdheit, das ist das letzte Empfinden gegenüber allen den Gefühlen dieses Volkes.”[9] Und er wiederholte: “Fremdheit ist das letzte Gefühl. Anders ist hier alles, so ohne Vergleich, ohne Ähnlichkeit anders…”[10]

Nach dem zweiten Weltkrieg und nach der Unabhängigkeit Indiens im Jahr 1947 drängte sich den Europäern zunächst ein sehr verschiedenes Indienbild auf: Indien war nicht mehr Kolonialreich; nun wurde es zum “Entwicklungsland” abgestempelt. Plötzlich dominierte in unseren Köpfen Indien als armes Land. Seine feudalen sozialen Strukturen, die Ungerechtigkeit des Kastenwesens, die Konflikte zwischen Hindus und Muslimen standen nun im Vordergrund. Die Slums der Großstädte, die Versorgungsnöte in den Dörfern, die Naturkatastrophen fanden Aufmerksamkeit in den Medien. Über Indien, den Empfänger von jährlich vielen Millionen Euro und Dollar Entwicklungshilfe, wollte man informiert sein.

Nun war das Land auch mit dem Flugzeug rasch erreichbar: das soziale Elend – das allen Indienreisenden als erstes ins Auge springt – lag für Millionen von Touristen einsehbar und anschaulich offen “auf der Straße”. Früher hatten die langen Schiffsreisen Indienbesucher über Tage und Wochen innerlich auf das Fremde vorbereitet. Heute landen sie innerhalb von acht Stunden in den überfüllten, staubigen, lärmenden Metropolen Bombay oder Delhi. Der Kulturschock ist darum umso heftiger. Denn die menschliche Fähigkeit, das Fremde einzuordnen und zu assimilieren ist nicht zusammen mit der Schnelligkeit des Transports gewachsen.

Darum kehrt sich der Romantizismus heutzutage oft vom Schönen und Geheimnisvollen ab und wendet sich dem sozialen Elend zu. Es wird durch gefühliges Mitleid larmoyant heroisiert. Eine Art “Armutskitsch” entsteht, der ebenso an der Wirklichkeit vorbeigeht wie die Romantisierung der indischen Wirklichkeit. Die linksliberalen Intellektuellen unseres Landes suchen sogar vielfach nach den Manifestationen der krassen Armut, um sich in ihrer Verzweiflung über das schreckliche Los der Menschheit bestätigt zu wissen. So etwa Günter Grass in Calcutta: Er wollte die „Stadt bis in die schwärzesten Winkel hinein zu zeigen.”[11] Er suchte also geradezu die Faszination des Elends.

Wir sehen also, die Faszination, die von Indien ausgeht, nimmt je nach Land, je nach geschichtlicher Epoche, auch je nach politischer oder weltanschaulicher Einstellung unterschiedliche typische Gestalten an. Das Erschrecken vor Indien mischt sich mit dem romantischen Gefühl der Nähe und Vertrautheit, das Empfinden der Fremdheit kontrastiert mit einem unerklärlichen Sog, den die indische Gedankenwelt auslöst. Bisher habe ich andere Stimmen sprechen lassen, insbesondere Schriftsteller, um diese vielfältige Faszination zu beleuchten. Als nächstes möchte meine eigenen Beobachtungen darstellen.

Wie ist der Sog der indischen Gedankenwelt zu erklären? In ihrem Mittelpunkt steht bis heute sein radikales Einheitsdenken, das Gott, Mensch und Welt als das Eine Göttlich-Absolute (Brahman) definiert. So wird die komplexe und komplizierte, für die abendländischen Menschen stets dualistisch aufgebrochene Welt in eine suggestive Einheitsformel zusammengefaßt. Diese erlaubt und verlangt sogar, „Spiritualität“ – ohne die Vermittlung von Riten, von Institutionen, von Geschichte und moralischen Gesetzen – unmittelbar zu erfahren. Diese Erkenntnis der Einheitsphilosophie, daß alles göttlich ist und nichts außerhalb des Göttlichen besteht, empfinden viele westliche Menschen als eine innere Befreiung. Die Erkenntnis beglückt und beseelt, sie macht aber auch einsam, weil sich diese Einheitserfahrung schwer kommunizieren läßt. Europäer und Amerikaner, die sich auf diese Einheitsphilosophie einlassen, sind darum gefährdet, den Halt in der realen Welt zu verlieren, ähnlich wie Drogensüchtige.

Die Faszination Indiens ist gerade von dieser Einheitsphilosophie wesentlich bestimmt. Eben weil wir im Westen vom dualistischen Denken des Entweder-Oder geprägt sind, fühlen wir uns dem Verschmelzen der Gegensätze, dem polaren Denken des Sowohl-Als Auch oft emotional ausgeliefert. Das Wissen, daß die phänomenale Welt nicht überwältigt, nicht sich immer höher auftürmt und uns immer stärker belastet, sondern daß sich die Phänomene gedanklich-meditativ abbauen lassen, verschmelzen lassen, bis sie zu einer Einheit zusammenwachsen – das ist ein erlösender Gedanke für westliche Menschen. Denn so viele spüren, daß sie ihr Leben nicht mehr in der Kontrolle haben, daß sie die Phänomene überwältigen und unterdrücken.

Wer die Phänomene abbaut, beginnt, sich auf sich als reines Subjekt zu konzentrieren. Dies führt zu einer Kultur der Konzentration, angefangen von Yoga bis Meditation. Das kann zu Narzissmus und Ichsucht führen, aber auch zur Beschränkung auf Wesentliches und zu Weisheit im Alltagsleben. Wir sehen also, daß sich Einheitsdenken in zwei Kreisen manifestiert: als Subjekt-Ich und als All-Einheit. Aus dieser Spannung erwachsen verschiedene Darstellungen des Einheitsdenkens, die den Westen anziehen.

Ich denke vor allem an die Kosmosfrömmigkeit. Die Inder, insbesondere Hindus, leben noch in einem beseelten Kosmos, in dem Sonne und Mond, die Sterne, die Berge und die Meere, die Bäume und die Blumen, die Flüsse und die Felder ihre spirituelle Bedeutung besitzen. Der Kosmos ist im spirituellen Sinn hierarchisch geordnet. Die Sonne als größter leuchtender Körper, dessen die Menschen gewahr sind, gilt als das bedeutendste Symbol Gottes. Morgens treten fromme Hindu als erstes ins Freie, wenden sich zur aufgehenden Sonne mit gefalteten Händen und grüßen sie als das leuchtende Symbol Gottes. Ihre rituellen Gebetszeiten sind nicht der Uhr, sondern dem Lauf der Sonne angepaßt. Die Gebetszeiten sind die Morgendämmerung, die Abenddämmerung und der Mittag, wenn die Sonne im Zenit steht. Das sind also die kosmischen Übergangszeiten. Der Lauf des Mondes wird gefeiert. An jedem elften Tag des Mondmonats findet eine religiöse Feier statt. In den Dörfern singen die Menschen im Kreis stundenlang Litaneien zu Ehren von Gott Krishna. In jeder Vollmondnacht findet eine besondere Feier statt, ebenso in vielen dunklen Neumondnächten. Berge und Flüsse, Haine und besonders hochgewachsene, schöne Bäume sind bestimmten Gottheiten gewidmet. Überall in der Natur gibt es für Hindus  Zeichen und Andeutungen des Heiligen und Göttlichen, auch des Profanen als Gegensatz. Auch in unserer Zeit lebt der Kosmos für Hindus mit Bedeutungen und Hinweisen, Erinnerungen und Signalen von etwas Transzendenten. Darin sind gewiß auch Magie und Aberglaube gemischt, weshalb man diese Realität durchaus nicht idealisieren darf. Doch wir Menschen im Westen, die wir Natur und Kosmos mit den Augen der Biologie, Forstwirtschaft, der Physik und Astronomie zu betrachten gewohnt sind, fühlen uns von diesem multiplen, ambivalenten Bedeutungskosmos der Hindus geheimnisvoll angezogen.

Obwohl wir über Geheimnisse in unserem eigenen Leben eher lachen, anstatt sie ernst zu nehmen, sind wir in Indien fähig, die sehr wichtig genommenen Geheimnisse des Lebens zu bestaunen. Inder haben die Gabe, Geheimnisse nicht aufschlüsseln und enträtseln zu wollen, sondern gerade als Geheimnisse zu verehren und zu mythologisieren. Als Menschen des Rationalismus hält unser Wissenstrieb erst dann ein, wenn wir ein Geheimnis auf sein vernunftmäßiges Gerüst reduziert haben. In Indien ist das „Unaussprechbare“ – das, „wohin Worte nicht reichen“ – die letzte axiomatische Instanz. Um das Unaussprechbare faßlich, anschaulich zu machen, wird es in Geschichten gehüllt. Daraus entsteht der bis heute im Volk so lebendige Mythos.

Der Mythos fasziniert Menschen aus dem Westen, weil sie selbst keinen lebendigen Mythos mehr haben. Die griechische und römische Mythologie sind allenfalls Wissensstoff. Die biblischen Geschichten und Parabeln haben von der Theologie eine definitive Auslegung erhalten, sie sind also nicht mehr „frei“. Die indische Mythologie dagegen ist ständig im Fluß, verändert sich, reagiert auf neue Situationen, reagiert auf die Not der Menschen, Anleitung und Rat durch die Geschichten zu erhalten. Das Volk und seine Künstler behandeln den Mythos wie ein Orakel, das Antworten und ihre Fragen gibt.

Wir sehen also, daß weitgehend westliche Menschen von jenen Bereichen des indischen Lebens fasziniert sind, die in Europa und Amerika verschüttet und fast vergessen sind, die aber wesentlich für ein emotional und seelisch gesundes Leben sind. Es scheint fast so, daß westliche Menschen, wenn sie Indien besuchen, die aus dem Bewußtsein verdrängte zweite Hälfte ihres Wesens kennenlernen und sich anzueignen versuchen.

[1] „Indostan“. Zitiert nach Nirwana in Deutschland. Hrsg. von Ludger Lütkehaus. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2004, S.89.

[2] a.a.O., S.90.

[3] Johann Gottfried Herder: Auch ein Philosoph der Geschichte zur Bildung der Menschheit. In: Herder Werke Band 4: Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum 1774-1787. Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt 1994, S.85.

[4] Ibid., S.16.

[5] Heinrich Heine: Lyrisches Intermezzo IX. In: Heinrich Heines Sämtliche Werke. Band 1. Insel Verlag, Leipzig 1911, S.74.

[6] Edward Said: Orientalismus. Ullstein Verlag, Frankfurt 1978?, S.8.

[7] Hermann Hesse: Besuch aus Indien. In: Hesse: Aus Indien. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1980, S.241.

[8] Ibid., S.242.

[9] Stefan Zweig: Benares: Die Stadt der tausend Tempel. In: Zweig: Begegnungen mit Menschen, Büchern, Städten. S.Fischer Verlag, Berlin und Frankfurt 1956, S.260.

[10] Ibid., S.261.

[11] Grass: Zunge zeigen. Luchterhand Literaturverlag, Frankfurt 1991 (Sammlung Luchterhand). S.38.

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