Pilgerschaft in unserer Zeit. Eine Reise zur Halbinsel Athos (“Erbe und Auftrag”)

["Erbe und Auftrag", Jg. 84, Nr.3 (August) / 2008]

Pilgerschaft in unserer Zeit

Eine Reise zur Halbinsel Athos

von Martin Kämpchen

Die Männerrepublik. Ein Ort, an dem nur Männer wohnen? Auf einer Halbinsel mit einigen tausend Bewohnern? Auf der nicht einmal Kühe und Ziegen grasen dürfen? Mönche, die ihr gesamtes Leben keine Frau zu Gesicht bekommen, damit sie keinen Versuchungen der Lust erliegen? Kann man eine solche antimoderne Lebenswelt heute noch gutheißen und sie unterstützen, indem man sie aufsucht?

Einige Freunde faßten sich an den Kopf, als ich ihnen erzählte, daß ich die Halbinsel Athos, die Republik orthodox-christlicher Mönche, besuchen würde. Die heftigste Reaktion war: Und diese Klöster erhalten riesige Geldsummen aus öffentlichen Mitteln der Europäischen Union! Sie schließen den Besuch von Frauen aus, die auch Steuern bezahlen und auch zur Menschheit gehören! Andere waren moderater, auch Frauen, die durchaus verstanden, daß Mönche strikt unter sich leben wollen, die darauf hinwiesen, daß ein solcher Lebensstil auch Tradition im Mönchtum anderer Religionen hat. Meine Frage ist eher: Was läßt sich lösen durch das Ausblenden des anderen Geschlechts? Gewiß nicht die Lust, nicht die Sehnsucht nach dem Weiblichen. Aber die bejahendste Antwort ist: Das Athos-Mönchtum hat tausend Jahre überdauert und die edelsten Blüten der Spiritualität, Gelehrsamkeit und Künste hervorgebracht. Kann dieser Lebensstil also „falsch“ sein?

Henni, die uns drei Männer begleitete, schätzte unsere Reise nicht als einen ausgedehnten Herrenabend ein, von dem ihr Ehemann und die zwei Freunde mit frischer Freude an Familie und Welt zurückkehren würden. Sie wußte sehr wohl, daß Petrus, ihr Ehemann, sich nicht nur in Gemeinschaft mit ihr geistig erneuern konnte; er brauchte auch die monastische Atmosphäre.

Die Halbinsel ist hermetisch vor dem Zutritt geschützt. Eine Grenzmauer verläuft quer durch ihre Breite von Meeresküste zu Meeresküste. Keine einzige Straße unterbricht diese Grenze. Seitdem die EU Millionen von Euro in die Restauration der Athos-Klöster pumpt und die Republik ihre Wälder als Einkommensquelle entdeckt hat, sind zahlreiche Straßen durch die Wälder und Hänge geschlagen worden, auf denen Jeeps und Lastwagen fahren. Doch keine der Straßen führt von der Halbinsel heraus. Alle Fahrzeuge werden aufwendig und zeitraubend per Autofähre von Ouranoupolis auf den Heiligen Berg und wieder zurück transportiert. Das Schiff ist die einzige Verbindung für Menschen und Güter. Das Meer legt sich um die Männerrepublik wie ein Wassergraben um eine mittelalterliche Burg. Trotz der Öffnung für Laien, wachen die Mönche ängstlich über ihre kollektive Privatsphäre. Das merkt man auch an der Bauart der Klöster, die oft wie Trutzburgen wirken.

Von Indien kommend, habe ich die Abgrenzungen und Ausgrenzungen der Mönche manchmal wie die Regeln des Kastenwesens empfunden. Für mich war es betrüblich, daß wir Katholiken während der Liturgie einen Platz nahe der Tür, ferner vom Allerheiligsten als die griechischen (orthodoxen) Laienbesucher, einnehmen mußten. Die orthodoxen Kirchen sind unterteilt in den Altarraum, den nur die Priester betreten und der durch die Ikonenwand (Ikonostasis) den Blicken aller anderen verschlossen ist. Dann davor den Raum mit dem Chorgestühl; darin nehmen die Mönche und die orthodoxen Laien Platz. Und in einen dritten Raum, in dem wir sowie andere Orthodoxe, die vorn keinen Platz mehr fanden, uns aufgehalten haben. Daß Mönche und Laien getrennt sitzen und beten, empfinde ich als angemessen, nicht jedoch die Isolierung von Orthodoxen und Nicht-Orthodoxen.

Die Klöster.   Begleitet von heftigem Winken in Richtung der zurückbleibenden, immer kleiner werdenden Henni, fuhren Petrus, Gregor und ich auf der Fähre aus dem Hafen von Ouranoupolis hinaus zum Athos. Bevor wir einsteigen durften, prüfte die griechische Polizei genau, ob wir die notwendige Erlaubnis – das Diamonitirion – hatten, den Heiligen Berg zu betreten. Sie verglich den Namen auf dem Schein mit dem Namen im Paß, dann das Paßphoto mit unserem Gesicht. Täglich wird zwanzig nicht-orthodoxen Ausländern und hundert orthodoxen Griechen die Einreise erlaubt. Hinzu kommen Arbeiter und Zubringer, die für die Bauarbeiten und mannigfaltigen Bedürfnisse der Mönchsbevölkerung Dienste leisten. Die Fähre, die auch Autos aufnimmt, hält an jedem Kloster. Die meisten liegen, vom Meer sichtbar, in Küstenähe und haben Anlegestellen für die Transporte. Mehrmals am Tag gleitet das Schiff entlang der westlichen und östlichen Küste von einer Anlegestelle zur anderen. Athos-Pilger können es sich also recht bequem machen, indem sie das Boot von einem zum anderen Kloster nehmen, anstatt zu wandern.

Am Kloster angekommen, treten die Pilger durch das Tor der Außenmauern in den Klosterbereich, in dessen Mitte die Kirche steht. Die Zimmer der Mönche, ein Gebäude für die Gäste und Wirtschaftsgebäude, sowie Kapellen umgeben sie. Zwischen Kirche und Außengebäuden sind Höfe und Bäume mit winzigen eingefriedeten Gärten. Im Kloster Dochiarios war die Harmonie zwischen den Gebäuden mit seinen Winkeln, Bögen, Treppchen, Bildstöcken, Brunnen und Wandelgängen und der Hofanlage mit ihren blühenden Bäumen, Büschen und Blumen ästhetisch außerordentlich anziehend. Man spürte Raumgefühl und Rhythmus; eher: Der rhythmisierte Raum empfing eine geistige Dimension, er führte den Betrachter über den materiellen Raum hinaus. Andere Klöster schienen, was ihre Anlage betrifft, vergleichsweise bloß funktionell zu sein. Die Magie eines jeden Klosters bestand für mich in der Patina ihres „Gewachsenseins“. Über Jahrhunderte hatte sich ein Ring nach dem anderen um den Kern gelegt. Was bei Bäumen Moos und Fungus und Verrenkungen von Stamm und Ästen ist, zeigte sich bei den Klöstern in Giebeln und felsplattenbedachten kleinen Kuppeln und an die Wände geklebten Holzgängen und Holzzellen. Dieses Labyrinthische schien nicht zur Mathematik und Statik zu gehören, sondern zum Wachstum eines lebenden Organismus. Seine Ästhetik war nicht kalkuliert, sondern schien intuitiv aus diesem Wachstumsprozess zu entspringen.

Bei großen Klöstern hatte ich den Eindruck, als träte ich durch Stadtmauern ins Innere einer Stadt. In eine Stadt von schwarzbärtigen Männern mit schwarzen Umhängen und schwarzen Kappen, über denen schwarze Schleier lagen. Oder auch: in eine Stadt ohne Menschen. Denn die Mönche blieben eigentümlich, manchmal schon auf gespenstische Weise, unsichtbar. Auf den Gängen, die an den Außenwänden entlangführten, in den Höfen, auf den Treppen und in den Ecken und Winkeln sah man tagsüber kaum jemals einen Menschen. Man erfuhr: Vierzig Mönche wohnen in diesem Kloster. Oder sechzig oder achtzig. Aber wo waren sie? Wo arbeiteten sie? Hinter den Türen ihrer Zimmer? In Küche und Bibliothek und in den Olivenhainen außerhalb der Klostermauern? Nur von Zeit zu Zeit sah ich eine einzelne schwarze Kutte, von der sich ein schwarzbärtiges Gesicht nur undeutlich hervorhob, den Hof durchschreiten oder auf einer Treppe sitzen. Nur in der Kirche sah ich die Mönche versammelt und wenn sie nach der Liturgie heraustraten und im Speisesaal. Vor allem in der Kirche während der Liturgie wirkten sie aber durch die schwarzen Kutten, die wir Hintenstehenden nur vom Rücken sahen, nicht lebendig, sondern anonym-zeitlos. Die Ichlosigkeit, die die Mönche als ihr wesentliches asketisches Ziel betrachten, sah ich symbolisiert im Verlust ihrer Individualität… Später werde ich – kurioserweise – gerade über den Individualismus der Mönche berichten.

Lebendig waren die Schwalben. In jedem Kloster hatten sie über dem Eingangstor und an überhängenden Simsen ihre Nester geklebt. Sie kreisten um die Kirche, kreischend, schwungvoll, lustig und lustvoll. Sie flitzten hin zu ihrer Brut und flitzten zurück, Bröckchen suchend, Bröckchen bringend, Bröckchen in Schnäbel stopfend. Die Fülle des Familienlebens – hier ergoß dir sich über würdiges Schwarz. Zwei Welten, die nichts voneinander annahmen.

Die Liturgie.   Wir drei Katholiken kamen, um uns christlich inspirieren zu lassen. Wir suchten christliche Entdeckungen. Zu finden sind sie auf dem Athos vor allem in der Liturgie. Gegen halb fünf, manchmal früher, also im Dunkeln, beginnt das Morgengebet in der Kirche und setzt sich bis halb acht fort. Ein Mönch geht frühmorgens mit einem langen Brett – der sogenannten Stundentrommel oder dem Simantron – um die Kirche und schlägt laut und rhythmisch mit einem Holzhämmerchen darauf. Indem er zwei verschiedene Stellen des Holzes trifft, kann er zwei unterschiedliche Töne hervorbringen. Doch mehr an Melodie gibts nicht. Das trockene, knöcherne, drängende Klopfen folgte uns durch alle Klöster. Mehrmals am Tag, auch mehrmals während der Liturgie, wurde es wiederholt. Es gilt als Symbol des Athos-Erlebnisses. Ich empfand es als merkwürdig prosaisch, unspirituell, geradezu als ärgerlich. Die „Welt“ kennt so viel Hämmern und Klopfen – muß man zum Gebet mit diesen Lauten aufgeweckt werden? Für mich hat die Lautfolge etwas Militärisches, fast könnte man danach marschieren. Das Mönchische und das Militärische schließen aber einander aus. Doch hörten wir auch Glocken, die im allgemeinen in eigenen Türmen oder Gerüsten hingen. Es gab aber kein mächtiges, volles, langsames Ausschwingen der Glocken, sondern vieltonige, perlende, rhythmisch figurierte Glockenspiele, deren manirierte Formvollendung im drastischen Gegensatz zur Stundentrommel stand. Der Gesang der Mönche war im russichen Panteleimon-Kloster wohllautend, anrührend und für uns Ungeübte eingängig. In den Klöstern mit griechisch-orthodoxer Liturgie schwankte der Gesang vom ursprünglich Einfachen bis hin zu komplizierten, orientalisch wirkenden Tonfolgen mit Halb- und Gleittönen.

Am meisten beschäftigte mich die Frage, ob die orthodoxe Liturgie eine „kontemplative Technik“ beinhaltet. Wegen der Sprache wurde uns leider von der Abfolge der Psalmen, Gesänge und Lesungen nichts verständlich, nicht einmal erratbar. Deutlich war mir allerdings, daß die drei oder vier Stunden der Morgenliturgie ausschließlich aus gesungenen oder gesprochenen Worten bestanden, wobei litaneiartige Wiederholungen eines einzigen Wortes, wie im indischen Nama-Japa, oder eines Satzes, wie im Jesusgebet und in gewissen alten christlichen Litaneien oder im Mantra-Gebet, fehlten. Es gab auch keine erkennbaren Steigerungen, wie im indischen Kirtan, bei dem sich die Sänger durch das Wiederholen des gleichen Namens in immer rascherem Rhythmus in eine religiöse Ekstase singen. Ebenso entdeckte ich keine Körperhaltungen, die bewußt die kontemplative Sammlung unterstützen und fördern sollten. Im Gegenteil, die Körperhaltungen der Mönche im Gestühl waren individuell und verrieten kein erhöhtes Körperbewußtsein.

Vom benediktinischen Chorgebet bin ich kürzere Gebetszeiten gewöhnt, die häufig von Zeiträumen bewußter Stille unterbrochen sind. Bei den Benediktinern herrscht auch die Disziplin der Gemeinsamkeit: Gemeinsam schreiten sie in den Chorraum, gemeinsam setzen sie sich, stehen sie auf und verneigen sich, gemeinsam oder im Wechsel von zwei Gruppen singen sie. Dagegen sticht der Individualismus auf dem Heiligen Berg ab. Die Mönche schreiten einzeln in die Kirche hinein und setzen sich ins Chorgestühl, oder schreiten hinaus, während andere singen oder vorlesen und zuhören. Sie widmen sich, jeder für sich, der überaus wichtigen Verehrung der Ikonen an der Ikonostasis und an den Nebenaltären: Sie verneigen sich, weiträumig und schwungvoll das Kreuz schlagend, vor einer Ikone und küssen sie, das heißt, sie berühren sie oder berühren sie beinahe mit den Lippen. Danach die nächste Ikone. Oft stellen sich die Mönche abschließend, jeder einzeln, in die Mitte des Kirchenraums und schlagen noch dreimal hintereinander das Kreuz, weiträumig und schwungvoll.

Die Bedeutung des Ausdrucks „das Kreuz schlagen“ wird mir hier bewußt. Man schlägt sich selbst mit dem Kreuz, wie mit einem Schwert, mit dem Symbol von Leid und Triumph. Mut und Kraft und Entscheidung stecken in diesen großen Kreuzen – allerdings nur, solange die Finger entschieden Stirn, Brust und die Schultern berühren. Sonst verkommen die Kreuze zu einem undeutlichen Schwingen der Arme. Je kraftvoller, präziser und bewußter das Kreuzschlagen, desto ausdrücklicher nähert es sich symbolisch dem kosmischen Kreuz. Die vier Himmelsrichtungen, sowie das Horizontale und das Vertikale richten das Kreuz im Kosmos auf. Ebenso verwirklicht der Körperbau das Kreuz: vom Kopf bis zu den Füßen und von einer seitlich ausgestreckten Hand zur anderen verlaufen die Balken. Ein Gebet von Lanza del Vasto sagt treffend: „Ich denke mich in das Kreuz hinein; ich denke das Kreuz in mich hinein.“ Kosmos-Kreuz und Körper-Kreuz werden eins.

Während der fünf Tage auf dem Heiligen Berg habe ich dieses ununterbrochene Kommen und Gehen der Mönche, ihr Auf-und-Abschreiten, das Hinein und Heraus, das Wehen der langen, schwarzen Kutten, dieses sanfte Geräusch aneinanderreibender Stoffe, dieses aufrechte, sichere Stehen in der Mitte und das Kreuzschlagen – diese starke Präsenz der Mönche in ihren Bewegungen tief in mich aufgenommen. Tagelang hat dieser Individualismus mich irritiert und mir imponiert, weil ich darin keine asketische Methode, aber dennoch so viel Haltung entdeckte. Meine Erfahrung ist, daß asketische Verwirklichung am ehesten durch Wiederholung und Gemeinsamkeit erreicht wird. Wie anstrengend muß es sein, der Liturgie Wort für Wort jeden Morgen drei oder vier Stunden lang zu folgen! Ist es überhaupt möglich? Verführt die Länge dieser diskursiven Vorgänge nicht zur halbverstehenden Oberflächlichkeit, bei der die Worte am Ohr vorbeirauschen, zu Lauten ohne Sinn werden? Kann man mit diesen geradezu unzähligen Worten Gott verehren? Nun, kaum einer der Mönche nimmt an der Liturgie von Anfang bis zum Ende teil; er geht hinaus und kommt zurück, etwa wenn die Eucharistie gefeiert wird, und geht wieder hinaus. So wenig schien mir in der Liturgie auf eine Verwesentlichung, auf eine schrittweise Vereinfachung hinzuweisen, die etwa in das „Gebet des Herzens“, das Jesusgebet, münden würde. Tatsächlich hatten viele Mönche Rosenkränze aus Stoff in der Hand, längere und kürzere, tatsächlich habe ich die Gesichter beinahe immer gesammelt und in sich ruhend erlebt. Kaum einer ließ seine Blicke schweifen, schon gar nicht hin zu uns Gästen. Wie war diese Unstimmigkeit zwischen dem Vielen und Individuellen einerseits und den gesammelten Gesichtern andererseits zu erklären?

Zuletzt kam mir die Idee, daß ich dieses Auf und Ab nicht in seinen einzelnen Vorgängen sehen darf, sondern als Gesamtbild. Der in Indien gern gebrauchte Vergleich wäre: die einzelne Welle und das große Meer. Hefte ich meinen Blick auf die einzelne Welle, verliere ich das Bewußtsein vom großen, weiten Meer, in dem diese Welle sowie Millionen andere Wellen aufgehoben sind und eins werden. Ich muß die einzelnen, individuellen Bewegungen der Mönche als Teil eines großen Ganzen der Verehrung und Sammlung erleben, dann irritiert mich der Individualismus nicht länger.

Die Kirchenräume waren meist halbdunkel, und in diesem Halbdunkel mit einer byzantinischen Fülle von Bildern und Statuen überladen. Eine ähnliche Fülle kennen wir auch von barocken katholischen Kirchen. Der Unterschied lag in der „mystischen Licht- und Raumregie“. Der Kirchenraum war nicht von einigen großen Lampen ausgeleuchtet, sondern von vielen kleinen Lampen und Kerzen und Petroleumlichtern punktuell erleuchtet. Da waren die langen, schmalen Kerzen vor einigen Ikonen, die die Mönche und Laien ständig neu anzündeten und, kaum zur Hälfte herabgebrannt, in kleine Eimer fallen ließen. Andere Kerzen wurden, unten entzündet, mit Stricken hinaufgezogen. Da brannten Ampeln und milchige Lampen. Überall glitzerte und glänzte und spiegelte sich Licht und ließ fast geisterhaft Gesichter und Situationen auf den Ikonen aufleuchten. Verwirrt und berauscht stand der Neuling in diesem Raum. Am meisten faszinierte mich, daß der Kirchenraum von oben „behängt“ wurde: von mächtigen Kronleuchtern, imposanten Metallkränzen von mehreren Metern Durchmesser, auf denen Lichter steckten. Viele kleine Lampen hingen von der Decke – der Blick konnte die Einzelheiten nicht fassen. Ins Tagebuch notierte ich: „Ein herrliches Gewühl von Heiligem.“ Ich war an das Firmament mit seinen Sternen erinnert. Man sollte überwältigt werden, und ich war es! Hier schien mir eine Methode rauschhafter mystischer Empfindung am Werk, aus der diese Kirchenräume gestaltet wurden und die wiederum zu solchen Empfindungen führen sollten. Hier erkannte ich sogleich ein „System“ und brauchte nicht tagelang um Verständnis zu ringen.

Die Pilgerschaft. Die Klöster der Athos-Halbinsel sind für die Griechen und für die griechisch-orthodoxe Kirche insgesamt wie Rom für die Katholiken, Jerusalem für die Juden und Mekka für die Muslime. Sie sehen darin nicht nur ihre religiöse, sondern auch ihre kulturelle Mitte repräsentiert. Es mag ältere, berühmtere und allgemein zugängliche, nämlich alt-griechische, Monumente geben. Doch sind diese museal, aus ihnen entspringt kein Funken Leben mehr. Der Athos zeigt die ungebrochene Tradition von tausend Jahren. Darauf sind Griechen stolzer als auf die Akropolis. Also begegneten wir griechischen Pilgern, die im eigentlichen Sinn nicht religiös motiviert waren. Soll man sie „kulturelle Pilger“ nennen? Ich erkannte sie unschwer an der Unsicherheit, mit der sie sich in den Kirchenräumen bewegten. Sie kamen zur Liturgie in die Kirchen, sie standen im Gestühl und hörten zu. Verständnis und Anteilnahme waren jedoch keineswegs in allen Gesichtern zu lesen. Außerhalb seiner Mauern besitzt jedes Kloster eine offene viereckige Laube mit Bänken und meist einem Blick hinab zum Meer. Darin halten sich die Gäste abends auf. Hier sind sie unter sich und können darum ungezwungen rauchen, schwätzen, sich räkeln und fotografieren. Aber waren sie deswegen zum Athos gekommen? Was haben sie gesucht, und was finden sie? Athanasios war ein solcher liebenswerter, aber eigentlich nicht recht motivierter junger Pilger. Er kümmerte sich vorbildlich um das Wohl von uns Ausländern. Als Gregor und ich im Kloster Megisti Lavra unser Abendessen verpaßt hatten, wurde Athanasios philosophisch. Es gäbe zwei Möglichkeiten: es nachzuholen (was nicht möglich war), oder den Verlust vergessen zu machen. – Wie denn? – Mit Raki! erwiderte er und holte eine kleine Flasche klaren, kräftigen Schnaps aus seiner Tasche. Athanasios schenkte davon heimlich, verschwörerisch in Kaffeetassen ein, damit die monastische Umgebung nichts von der Untat erfuhr. Im Nu hatten wir das verpaßte Abendessen verschmerzt.

In vielen katholischen Klöstern gibt es Angebote wie „Kloster auf Zeit“, Einzel- und Gruppenexerzitien, Meditationsräume, Kurse zur Einführung in die Meditation. So manche Klöster haben Bildungsstätten und Akademien angegliedert. Nichts davon besteht auf dem Heiligen Berg. Wohl ist ein Mönch für die Gäste verantwortlich. Doch teilt er sie nur in die Zimmer ein, sieht zu, daß sie zu essen bekommen und dergleichen. Eine geistliche Ansprache mag es für die Griechen vereinzelt und spontan geben, für die Nicht-Orthodoxen gar nicht. Wer also spirituelle Orientierung braucht, wird sie mit Hilfe der Liturgie und der monastischen Atmosphäre finden müssen, selten durch gezielten Rat. Die Mönche sind dafür nicht ausgebildet und sehen es offenbar auch nicht als eine ihrer Aufgaben an. Die Regel, daß ein Pilger, orthodox oder nicht, nur einen Tag in einem bestimmten Kloster zubringen darf und dann weiterziehen muß, steht der Möglichkeit geistiger Führung ebenfalls entgegen. Wer es also unter den Pilgern nicht versteht, sich allein geistig zu beschäftigen, wird wenig Nutzen aus seinem Athos-Erlebnis ziehen.

Innerhalb dieses Rahmens haben wir drei deutschen Katholiken eine gute, meist sogar exquisite Gastfreundschaft erfahren, und zwar in jedem Kloster. Wir waren gewarnt worden, daß die Aufnahme in einigen Klöstern gleichgültig, vielleicht sogar abweisend sein könnte. Als ich vor drei Jahren zum erstenmal den Athos besuchte, hatte es einige solcher unglücklicher Vorfälle gegeben. Damals war ich zum Beispiel mehrmals auf meinen Katholizismus angesprochen worden, der als Christentum zweiten Ranges abgetan wurde. Diesmal erfuhren wir nichts dergleichen. Sobald wir ankamen, reichte uns ein Mönch ein Tablett mit einem kleinen Glas Raki, Loukoumi (eine Süßigkeit), einen griechischen Kaffee und einen Krug Wasser. In der Skite Prodromo saßen Gregor und ich, unangemeldet und einfach dahergekommen, auf einer Bank vor der Kirche, als sogleich ein Mönch in den Hof trat, um uns zu bewirten. Als wir schweißtropfend im Kloster Pantokrator eintrafen, stellte der jugendliche Gastpater Raki vor uns und behauptete: Das stoppt den Schweiß! Später lud er uns zweimal ein, wiederzukommen.

Der Unterschied in der Sprache wird meist mit dem Englischen überbrückt, sogar viele Mönche beherrschen davon genügend, um sich verständlich zu machen. Laien redeten uns immer wieder auf Deutsch an; sie hatten in Deutschland studiert oder sie arbeiteten dort. Für viele war der Athos-Besuch ein Bestandteil ihres Heimaturlaubs. Ein junger Grieche in Militärkleidern führte uns mit begieriger Freude durch das Kloster Dochiarios und bewegte sogar einen Mönch, für uns die Kirche aufzuschließen, und einen anderen, „heiliges Wasser“ aus einem tiefen Brunnen zu ziehen. Er war zum Athos gekommen, um vor einer wundertätigen Marienikone um eine gute Ehefrau zu bitten. Ein junger Mönch im Kloster Karakalos sprach uns in perfektem Deutsch an. In Heidelberg hatte er Volkswirtschaft studiert, bevor er dem Ruf zum Athos folgte. Ob er glücklich im Kloster sei, wagte Petrus ihn zu fragen. Sein überzeugtes „Ja“ schloß jeden Zweifel an der Aufrichtigkeit seiner Antwort aus. Doch als ich ihn fragte, ob ich ihm deutsche Bücher schicken dürfe, schlug er aus. Das schien zu viel Nähe zur „Welt“ zu bedeuten.

Zwischen dem Berg und dem Meer.   Häufig denke ich darüber nach, was meinen Neigungen mehr entspricht, am Meer zu wohnen oder in den Bergen. Mal entscheide ich mich für die Berge, dann wieder fürs Meer. Auf der Halbinsel Athos ginge beides gleichzeitig in Erfüllung. Eine der bewegendsten Erfahrungen auf der Halbinsel war, im Westhang hoch über dem Meer zu wandern. Mit dem Blick auf das smaragdgrüne, gekräuselte Wasser zur Rechten, Olivengärten oder Wälder zu durchschreiten, vermittelt eine tiefe Erfahrung von Freiheit. Diese Freiheit ist erdgebunden und ermöglicht dennoch Entfaltung bis ins Unendliche.

Wir waren mit der Absicht angekommen, den Athos-Berg, der mit seinen gut zweitausend Metern von beinahe allen Orten der Halbinsel sichtbar ist, sie also imposant dominiert, zu besteigen. Die stumme, hartnäckig beständige Gegenwart der Bergkuppe, die Indienkenner an die Form eines göttlichen Shiva-Lingam erinnert, läßt das Gefühl des Ständig-Beobachtetseins, des Ständig-Bewacht- und Behütetseins entstehen.

Als wir im Juni die Athos-Halbinsel besuchten, lag Griechenland unter einer Hitzeglocke. Die Temperatur stieg auf 40 Grad und höher. Unsere Wanderungen von Kloster zu Kloster waren von den Anstrengungen, die die Hitze hervorrief, geprägt. Die Erleichterung, im Schatten eines Klosters anzukommen, war darum umso größer. Vor allem die hochgedomten Kirchenräume blieben angenehm kühl. Mir schien ist nicht ratsam, diese Anstrengung ohne Not zu verschärfen. Wie kann, wer sich zu angestrengt mit dem Körper beschäftigen muß, noch geistig suchen und finden? Zweimal fuhren wir mit dem Boot, wo wir ursprünglich eine Wanderung geplant hatten. Einzig Petrus war noch bereit, den Athos-Gipfel zu besteigen und ließ sich nicht davon abbringen. In der Nachmittagssonne wanderte er bis zur Auferstehungskapelle, übernachtete dort und bewältigte am frühen Morgen das letzte Stück, um den Sonnenaufgang auf dem Gipfel zu erleben. Mittags trafen wir ihn, erschöpft und beseelt, in der Skite Annis wieder.

Mir wurde, außer der Hitze, nach und nach ein weiterer Grund bewußt, weshalb ich vor dem Gipfel zurückschreckte. Ein Berg, gerade der Athos, entfaltet seine Kraft, indem man ihn – von unten – anblickt, ihn immer vor sich oder zur Seite hat. So tun es Pilger in Tibet, die den Berg Kailash umrunden, ihn aber nie besteigen. Ist der Berg „bezwungen“, hat er sein Geheimnis verloren, gibt er uns keine Kraft mehr. Der Gipfel gewährt zwar einen weiten Rundblick, doch den Berg selbst sieht man nicht. Auf heiligen Boden, eben auf die Gipfel heiliger Berge – die Wohnungen Gottes – tritt man nicht! Mit anderen Worten, ich war damit versöhnt, daß ich mein ursprüngliches Ansinnen aufgegeben hatte. Zuletzt empfand ichs nicht mehr als Feigheit oder Niederlage, sondern als Resultat einer Einsicht. Als Petrus sicher zurückgekehrt war, wurde mir bewußt, daß wir den Berg tatsächlich zu Fuß und per Schiff im Uhrzeigersinn umrundet hatten. Mit einem vollen Kreis hatten wir ihn geehrt.

Rückfahrt. Gern hätten wir den schwäbischen Mönch Panteleimon besucht. Seine Einsiedelei direkt am Meer ist die erste Anlegestelle aller Schiffe, die in Ouranoupolis auslaufen. Seine Einsiedelei gewährt vielen deutschen Gästen Unterkunft, auch länger als einen Tag. Bei meinem ersten Athos-Besuch verbrachte ich dort mit Rüdiger drei Tage. Hier treffen westlicher Wunsch nach Unterweisung und östliche Spiritualität zusammen. Diesmal war sein Gästehaus ausgebucht; auch ein kurzer Besuch gelang uns nicht, als wir in brüllender Hitze nach ihm riefen und an sein Tor klopften, ohne Antwort zu bekommen.

Auf der langsamen Rückreise im Fährschiff – Gregor wollte bedächtig zurückkehren –, trafen wir im Hafen von Daphni Theo wieder, einen dreißigjährigen Griechen, dem wir schon zweimal zuvor begegnet waren. Ein langer, schlanker Mensch mit einem offenen Gesicht voller Charme. Er wohnt in Madrid, aber reist viel und kennt viele Menschen und hatte den Athos besuchen wollen, um als Grieche stolz auf ihn zu sein. Zusammen stiegen wir in Daphni ins Schiff und fütterten mit dem letzten Klosterbrot die riesigen Möwen, die in eleganten Flügen das Schiff begleiteten. Lebhaft unterhielten wir uns über sein Leben und sein Griechenland. Er sprach fließend Englisch, Italienisch und Spanisch. Er war ebenso Europäer wie Grieche und gehörte zu einer Generation von Europäern, auf die die Schatten des Zweiten Weltkrieges nicht mehr gefallen sind. Sorglos, verwöhnt und sehr frei erschien er mir. Wie er mir später schrieb, fuhr er von Ouranoupolis mit Freunden weiter in seine Heimat, um die Eltern zu besuchen, von dort in rasender Nachtfahrt nach Athen und auf eine Insel, wo er einen Tag verweilte, dann zurück nach Athen, um eine wilde Nachtparty mitzumachen. Am nächsten Morgen der Flug nach Madrid. Theo berichtete in seiner eMail weiter: „Ich kam dort an, völlig kaputt, aber glücklich, und gestern bin ich schon um elf Uhr nachts zu Bett gegangen, zum ersten Mal seit Jahren so früh.“

Während Theo und ich uns unterhielten, stand ein anderer griechischer Pilger auf dem Deck, den Kopf fest zum Berg Athos gewandt, und schlug, sich verneigend, immer wieder das Kreuz, sich verneigend immer wieder… Der Berg und eine Insel; Gott und sein Verehrer!

Den Anfang zum Schluß.   Mit dem Berg Athos wurde ich, wie viele andere Deutschsprachige, vertraut gemacht durch das Buch von Erhart Kästner „Die Stundentrommel vom heiligen Berg Athos“. Als Vierundzwanzigjähriger hatte ich das Taschenbuch mit nach Indien genommen und las es ein halbes Jahr später, als ich zum ersten Mal in die Himalayas reiste. Erschöpft von Monaten der schwülen Hitze in Kalkutta, nahm ich Zug und Bus nach Kalimpong, wo ich in einem Ashram wohnte. Die frische, trockene, knackige Luft, in dem die Blumen und Bäume viel hellere, reinere Farben annahmen, als in der nassen Luft der Ebene, ließ mich befreit aufatmen. Der Kanchenjunga und andere weißbetupfte Berge, die mir so vertrauten Nadelhölzer, diese betörende Kühle! In diesem befreiten Aufatmen las ich Erhart Kästners Buch, wanderte durch die Berge, las im Gehen und las sitzend vom Berg Athos. Unschuldig lief ich durch Militärgebiet, das ich im Leserausch kaum wahrgenommen hatte, wurde von einem Militärpolizist angehalten, der sich das Buch und meinen Notizblock mit Bleistift zeigen ließ, nichts verstand und darum wohl noch argwöhnischer wurde. Das Ergebnis: Meine Aufenthaltserlaubnis für die Berge wurde nicht verlängert, und noch jahrelang umgab mich ein offizieller Argwohn. In dieser Umgebung lernte ich also den Athos kennen. In der Befreiung durch die Berge erfuhr ich vom Heiligen Berg und seiner geistigen Freiheit! Das Buch bleibt bis heute einer meiner tiefsten Leseeindrücke, und bis heute habe ich nicht gewagt, es wiederzulesen, aus Furcht, es könne mich diesmal enttäuschen und diesen ersten Eindruck zerstören.

Juni 2007

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