Das indische literarische Dilemma

F.A.Z., Mittwoch den 25.05.2016 Feuilleton 13

Das indische literarische Dilemma

Die Autoren des Subkontinents sind auf der Suche nach Lesern im eigenen Land, aber auch bei uns ist es für sie schwieriger geworden

SANTINIKETAN, im Mai

„Indien ist wahrscheinlich die einzige wirtschaftlich starke Nation der Welt, die keine Behörde für ein engagiertes Übersetzungsprogramm besitzt.“ So stand es kürzlich in Indiens hochrespektierter Tageszeitung „The Hindu“. Angesprochen ist damit die indische Literatur, die sich in 24 offiziell anerkannte Literatursprachen aufteilt. Diese Literaturen müssen, um sich gemeinsam als eine indische Literatur wahrnehmen zu können, einander kennenlernen. Das ginge nur über ein weitgefächertes, mit Leidenschaft und großzügiger finanzieller Unterstützung betriebenes Übersetzungsprogramm.

„The Hindu“ schreibt weiter: „Die Übersetzung von Literatur, die das menschliche Befinden erforscht, kann ein Gegenmittel zu den Reden der Machtpolitik über den verhassten ‚anderen‘ sein. Während Milliarden von Rupien für die Stärkung unseres Militärs ausgegeben werden, geschieht sehr wenig, um die Literatur in den indischen Sprachen zu fördern. Klassische Musik und die Künste erhalten viel mehr offizielle Unterstützung, viel mehr als die Literatur.“

Literatur als Mittel zur Integration, als jener Horizont, vor dem die Gemeinsamkeit der Geschichte und der Erfahrungen augenfällig wird – in Indien kann und muss Literatur auch diese soziale Funktion erfüllen. Zu viele zersetzende Kräfte sind hier am Werk. Zudem haben Erzählungen, mündliche wie schriftliche, einen viel höheren Stellenwert als im digital übersättigten Europa. Allerdings wirken die Schwierigkeiten abschreckend. Sie beginnen bei einer mentalen Sperre: Die größten Sprachgruppen, etwa Hindi und Bengalisch, Tamil und Malayalam, könnten jede für sich ein Übersetzungsprogramm von nationaler Bedeutung starten, das der jeweiligen Literatur weltweit Anerkennung verschaffte. Doch gesamtindisch gesehen, vertritt jede Gruppe nur eine regionale Sprache und muss deshalb innerhalb des Landes um Anerkennung ringen.

So wichtig dem indischen Volk Literatur auch ist, eine Buchkultur gibt es selbst in den großen Sprachregionen noch nicht. Kein Gesamtkatalog der veröffentlichten oder zumindest lieferbaren Titel existiert, auch kein durchorganisiertes allgemeines Vertriebsnetz, vielmehr konkurriert eine Vielzahl kleinerer Netze miteinander. Buchhandlungen, die diesen Namen verdienen, bestehen nur in Großstädten. Amazon und andere Buchlieferanten beginnen erst, ihr Liefersystem aufzubauen.

Auf dieser schwachen Basis wäre es schwierig, ein landesweites Übersetzungsprogramm aufzubauen. Zunächst fehlt es an kompetenten Übersetzern, obwohl zahllose Inder zweisprachig aufwachsen. Literatur zu übertragen verlangt jedoch andere und größere Anstrengungen, als etwa einen Geschäftsbrief zu übersetzen. Von seiten der Regierung hat die Sahitya Akademi (die indische Literaturakademie) die Aufgabe übernommen, zwischen den indischen Sprachen zu übersetzen, und sie tut dies redlich, doch mit mäßigem Publikumserfolg. Ihre Bände findet man in den Buchhandlungen selten.

Inzwischen gehört es allerdings zum guten Ton bei den großen Verlagshäusern, übersetzte Literatur zu verlegen. Macmillan, Oxford University Press, Penguin Books, Orient Blackswan und einige andere waren dabei Pioniere. Nach und nach ist den Verlegern bewusst geworden, dass gute Übersetzer gut bezahlt werden müssen, dass man die Kunst der Übersetzung pflegen sollte, und tatsächlich haben schon einige indische Elite-Universitäten Kursprogramme zum Thema Übersetzung gestartet. Zu verdanken ist dieser Fortschritt dem leidenschaftlichen Engagement einzelner Personen, etwa Mini Krishnan in Chennai, die bei Oxford University Press englische Übersetzungen aus indischen Sprachen herausgibt, in verschiedenen Gremien für Übersetzungen als nationale Aufgabe wirbt und sogar eine vielbeachtete Kolumne im „Hindu“ zur Lage der Übersetzer schreibt.

Leidenschaftlich ist allerdings auch die Rivalität zwischen jenen Autoren, die in indischen Sprachen schreiben, und den englischsprachigen. Erstere fühlen sich benachteiligt, weil ihr Markt begrenzt und ihre überregionale Wirkung von guten Übersetzungen abhängig ist. Die englischsprachigen Autoren wiederum gelten als weniger authentisch, weniger volksverbunden. Gerade sie aber haben ein großes Publikum in ganz Indien und können auch in Großbritannien oder Amerika veröffentlichen. Schriftsteller wie Amitav Ghosh betonen zudem, Englisch sei in Indien längst eine einheimische Sprache geworden, weil viele Idiome und Wendungen aus den indischen Sprachen eingeflossen sind.

Im Jahr 2006, also vor zehn Jahren, war Indien Gastland der Frankfurter Buchmesse. Staatliche Behörden, vor allem der National Book Trust, sowie zahlreiche indische Verlage waren damals beteiligt. Der Eifer deutschsprachiger Verlage, indische Literatur zu veröffentlichen, war vorbildlich. Rund sechzig Werke, einschließlich Anthologien und Sachbücher, erschienen, viele durch indische Mittel gefördert.

Was ist heute von dieser erstaunlichen Dynamik geblieben? Selbst moderne Klassiker wie O. V. Vijayans „Legenden von Khasak“ wurden in Deutschland weniger als tausend Mal verkauft. Verlagssprecher konstatieren, dass Indien „einfach nicht geht“. Ist das Land zu komplex, zu fremd, zu weit weg vom Denken und Lebensstil Europas? Aber wird Literatur aus China oder Japan nicht mit Nachdruck verlegt – und mit Erfolg? Sind diese Länder weniger weit weg? Gewiss nicht, doch die indische Sprachenvielfalt, so vermutet man, schrecke ab. Hinzu kommen Rücksichten auf die postkolonialen Empfindlichkeiten des Landes und der Anspruch, dass die Dalit-Literatur, also die Stimme der Armen und Niedrigkastigen, wahrgenommen werden müsse.

Tatsache ist, dass sich nach 2006 kein größerer literarischer Verlag aus Deutschland mehr nachhaltig für indische Literatur eingesetzt hat. Kann man nicht Interesse durch vielfältige Werbemittel wecken, Autoren einladen, die neuen Medien bemühen, die Literaturhäuser, die großen Buchhandelsketten? Einige indische Autoren haben sich beim deutschen Publikum gehalten, so Shashi Tharoor, Amit Chaudhuri, Kiran Nagarkar und vor allem der meistgelesene, Amitav Ghosh. Sie alle schreiben auf Englisch, wohnen aber in Indien. Doch auch die letzten Bücher von Kiran Nagarkar und Amit Chaudhuri wurden nicht mehr übersetzt. Ihre bisherigen Verlage, A1 und Blessing, haben in diesem Jahr gar keine indischen Autoren mehr im Programm.

Und wie steht es in Deutschland mit Autoren, die in indischen Sprachen schreiben? Hier besteht zunächst dieselbe Schwierigkeit, die man aus Indien kennt: Es fehlt an kompetenten Übersetzern. Nur langsam wächst, von den indologischen Instituten gefördert, eine Generation von Übersetzern für die wichtigen indischen Sprachen heran. Dass man auch mit sogenannten „Regionalschriftstellern“ Erfolg haben kann, hat der Ullstein Verlag bewiesen, der den Roman „Das Mädchen meines Herzens“ von Buddhadeb Bose aus dem Bengalischen übersetzen ließ und auf Bestseller-Verkaufszahlen kam.

Von den indischen Kulturbehörden wurde ein umfangreiches Übersetzungsprogramm für Belletristik aus allen wichtigen Sprachen entwickelt, Experten wurden eingeschaltet, ausländische Verlage angesprochen und Übersetzer kontaktiert. Dieses ambitionierte „Indian Literature Abroad“-Projekt (ILA) war jahrelang in der Planung. Dann entstanden Kompetenzstreitigkeiten, und es verlief im Sande.

Der kleine Draupadi-Verlag in Heidelberg, der seit knapp dreizehn Jahren besteht, wäre ein Nutznießer von ILA gewesen. Er kann Bücher nicht ohne Zuschüsse drucken, sein Verleger Christian Weiß bezeichnet Verkaufszahlen von 600 oder 700 Exemplaren schon als Erfolg. Der fleißige Idealist hat bislang rund 110 literarische indische Werke auf Deutsch herausgebracht, davon achtzehn aus dem Hindi, sieben aus dem Bengalischen und fünfzehn aus dem Englischen. Uday Prakash, einen führenden Hindi-Schriftsteller, hat der Draupadi-Verlag mit gleich fünf Titeln im Programm.

Auf deutscher Seite ist die „Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika“ (Litprom) seit Jahren die rührigste Finanziererin. Obwohl die großen deutschen Konzerne, von denen viele auch in Indien Büros und Fabriken haben, Kulturförderung zur Imagepflege betreiben, hat keiner – außer der Firma Merck in Darmstadt – bisher die indische Literatur als förderungswürdiges Feld entdeckt.

Die indische Diaspora in Deutschland besitzt, im Gegensatz zu Großbritannien und den Vereinigten Staaten, wenige Menschen mit aktivem kulturellem Engagement. Eine bedeutende Ausnahme ist der aus Kerala stammende Journalist Jose Punnamparambil, der seit 33 Jahren die Zeitschrift „Meine Welt“ herausgibt, die sich dem deutsch-indischen Dialog verschrieben hat. Drei Nummern pro Jahr erscheinen, in jeder druckt Punnamparambil Erzählungen, Gedichte und Sachtexte bedeutender indischer Autoren ab. Er und ein Mitarbeiterstab sammeln, übersetzen, redigieren, bitten um Beiträge oder schreiben selbst. Alle arbeiten ohne Honorar. Jose Punnamparambil hat zahlreiche Anthologien zu Literatur und Leben in Indien und über die Erfahrungen von Indern in Deutschland herausgegeben, hat Menschen gefördert und mit Ehrungen bedacht. In den Chefetagen mancher Konzerne hat er angeklopft, um Geld für Literatur lockerzumachen, an Seminaren und Podiumsdiskussionen teilgenommen, jahrzehntelang.

Es gibt also auch Hoffnungsvolles. Letztes Jahr richtete die Universität von Tirur in Kerala einen Lehrstuhl für die Malayalam-Sprache an der Universität Tübingen ein. Der rührige Rektor K. Jayakumar will Literatur übersetzen und in Deutschland verlegen lassen. Ebenfalls im letzten Jahr gründete Matthias Beer die Lotos-Werkstatt in Berlin. Sein Vater Roland Beer gab schon zu DDR-Zeiten indische Literatur heraus. Als erste Bücher sind eine Erzählungssammlung des Hindi-Dichters Bhisham Sahni („Der Preis eines Huhns“) und eine Übersetzung des berühmten Buchs „The Other Side of Silence“ der Aktivistin und Verlegerin Urvashi Butalia („Geteiltes Schweigen“) geplant, das sich mit dem Schicksal der Menschen in Indien und Pakistan als geteilter Heimat beschäftigt – ein Thema, das gerade in Deutschland auf Interesse hoffen darf. Matthias Beer plant weitere Werke, etwa die Herausgabe der Indien-Briefe des DDR-Theaterregisseurs Fritz Bennewitz und die Übersetzung von Theaterstücken des Nationaldichters Tagore. Indiens Literaturen sprühen vor Leben. Zumindest etwas davon sollte auch hier ankommen.            MARTIN KÄMPCHEN

 

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