“Leben ohne Armut” in “Welt-Sichten”
Vom Wesen der Armut – und der Hilfe
Martin Kämpchen
Leben ohne Armut
Wie Hilfe wirklich helfen kann – meine Erfahrungen in Indien
Herder Verlag, Freiburg 2011,
197 Seiten
Martin Kämpchen lebt in Indien und unterstützt seit Jahrzehnten einige Dörfer nahe seines Wohnorts Santiniketan. Dabei hat er allerhand gelernt über Armut, die Armen und den Umgang der Reichen mit ihnen. Diese Erfahrungen vermittelt er in diesem schmalen, hochwertig gestalteten Band. Kämpchens wichtigste Erkenntnis: Armut ist nicht nur der Mangel an Ressourcen, sondern auch ein mentaler Zustand. Was er über die Armen in Indien sagt, gilt genauso für Menschen in Deutschland, die dem HartzIV-Status nicht entrinnen können: „Die Armen verfügen nicht über die konstruktive Fertigkeit, das kommunikative Geschick, das planende Denken und das Selbstvertrauen“, um tragfähige soziale Netzwerke zu schaffen, damit sie sich eine bessere Zukunft aufbauen.
Kämpchen schildert die Lebensgeschichte einiger Inder, die er gefördert und begleitet hat – einige haben bescheidenen Wohlstand erreicht, Bildung und Erfolg, andere hingegen sind trotz der Förderung gescheitert. Es reicht eben nicht, jemandem eine Ausbildung zu verschaffen oder eine Grundausstattung zu spenden – die Bereitschaft und Fähigkeit, diese Chance zu nutzen, müssen hinzukommen. Aber die Mentalität der Armen ändert sich, wenn sie beharrlich gefördert und Schritt für Schritt an neue Aufgaben herangeführt werden – das belegt Kämpchen mit Beispielen aus den Dörfern, deren Entwicklung er vorantreiben hilft. Kämpchen leistet sich den „Luxus“, diese Dörfer über Jahrzehnte immer wieder zu besuchen, das Vertrauen der Bewohnerinnen und Bewohner aufrecht zu halten, die lokale Sprache zu lernen – ein Vorgehen, das bei staatlicher oder größer dimensionierter Entwicklungsförderung in der Regel nicht möglich ist.
Der Untertitel des Buches „Wie Hilfe wirklich helfen kann“ weckt die Erwartung, dass mit der Entwicklungshilfe insgesamt abgerechnet wird. Das ist aber nicht der Fall. Kämpchen schildert lediglich seine persönlichen Erfahrungen. Implizit lässt sich daraus ableiten, wie es nicht gehen kann: Einfach Geld spenden und die Armen mit diesem Geschenk sich selbst überlassen. Geld ist keine Lösung, sondern, so Kämpchen, dient häufig nur der Entlastung des eigenen Gewissens. Natürlich sei es richtig, denen zu geben, die sich nicht selbst helfen können. Doch das sei nicht genug, um Entwicklung anzustoßen.
Der Autor betont, dass das christliche Gebot der Nächstenliebe ihn zu seinem Engagement verpflichte. Selbst wenn er auf Ablehnung stoße oder zurückgewiesen werde, mache er weiter. Sein Anspruch geht darüber hinaus, andere zu unterstützen: Ein Leben in Einfachheit ist nach seiner Auffassung notwendig, um die Armut aus der Welt zu verbannen. Die Forderungen von Kämpchen sind ethisch radikal, daher werden sicherlich nur wenige Menschen ihm folgen wollen. Doch seine Gedanken regen an, sich mit dem Wesen von Armut auseinanderzusetzen und die eigene Rolle als Reiche in dieser Welt zu überdenken.
Das Buch liest sich flüssig und sogar spannend. Schwarz-Weiß-Bilder geben einen guten Eindruck vom Leben in indischen Dörfern. Der Verlag hat an der Aufmachung nicht gespart und sogar ein Lesebändchen eingeheftet – Qualität, wie sie sich heute nur noch selten findet.
Charlotte Schmitz
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