“Leben ohne Armut” in “Berliner Literaturkritik”

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Wie Hilfe wirklich helfen kann

Entwicklungshelfer Martin Kämpchen berichtet über seinen Schatz voller Erfahrungen

© Die Berliner Literaturkritik, 07.07.11

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KÄMPCHEN, MARTIN: Leben ohne Armut. Wie Hilfe wirklich helfen kann – meine Erfahrungen in Indien. Herder Verlag, Freiburg-Basel-Wien 2011, 197 S..

Von Hans-Gert Braun

Martin Kämpchen, promovierter Germanist und promovierter Religionswissenschaftler, lebt seit 40 Jahren in Indien, wo er sich drei selbst gewählten Lebensaufgaben widmet: Er übersetzt das Werk des Dichters und Nobelpreisträgers Rabindranath Tagore aus dem Bengalischen ins Deutsche. Er fördert den Kulturaustausch zwischen Indien und Deutschland und schreibt deshalb regelmäßig im Feuilleton der FAZ. Und er betreibt ein eigenes Entwicklungshilfeprogramm in zwei Dörfern in der Nähe seine Wohnsitzes Santiniketan, der Stadt Tagores; das ist die empirische Basis seines Buches und auch seiner persönlichen Entwicklungsphilosophie.

In seinem neuen Buch versucht er Antworten auf drei Fragen zu geben: Was ist Armut? Was können wir gegen die Armut tun? Wie sollen wir uns angesichts der Armut verändern? Die Antwort auf die erste Frage ist ein Ergebnis seines Zusammenlebens mit den armen Menschen in den genannten Dörfern. Er hat sie viele Jahre lang besucht, hat Freundschaften geschlossen und ihre Armut hautnah erlebt. Seine Beschreibung der Armut geschieht deshalb mit größtem Einfühlungsvermögen. Sie erfolgt nicht abstrakt, sondern am Beispiel einzelner Menschen und Familien. Da wird die Bedeutung von Analphabetismus, von Arbeitslosigkeit, von Krankheit bzw. von funktionierender Familie, von der Bedeutung kultureller Regeln und Riten für die Armutssituation sehr plastisch. Er zeigt, dass ein bescheidenes Leben durchaus ein erfülltes Leben sein kann; aber er macht deutlich, dass das bescheidene Leben der Armen immer am Abgrund stattfindet. Es ist höchst instabil; wenn eine der Sicherheitskomponenten (egal ob Beschäftigung, Gesundheit, Wohnung, Familienharmonie oder Familienehre etc.) ausfällt, droht immer eine Katastrophe – egal ob Tod, Verschuldung oder gesellschaftliche Ausgrenzung. Der Teufelskreis der Armut wird in Gang gesetzt.

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Kämpchen warnt vor einer Idealisierung, vor dem Sympathisieren mit einer vermeintlichen Idylle der Armut. Er verdeutlicht den fundamentalen Unterschied zwischen einem aus freien Stücken gewählten einfachen Leben und dem aus der Not erzwungenen. Ein aus freien Stücken gewähltes Leben ist durch Möglichkeiten im Hintergrund (Vermögen, Freunde etc.) abgesichert, es steht nicht in der Gefahr des Absturzes. Diese permanent drohende Gefahr dagegen, die den Armen Tag und Nacht verfolgt, die von einem knurrenden Magen oder einer offenen Wunde stets wach gehalten wird, sie verändert die Armen, vor allem auch psychisch. „Armut ist ein mentaler Zustand“, lautet ein Kapitel. Das gesamte Verhalten der Armen, vor allem das gegenüber Behörden und den Institutionen der modernen Welt, ist dadurch geprägt. Die Herablassung, die ihnen als Armen gegenüber erwiesen wird, bleibt an ihnen kleben.

Kämpchen beginnt seine Ausführungen zur Frage, was man gegen die Armut tun kann, mit (s)einer Philosophie des Helfens. Hilfe soll nicht in Form von Helfern geleistet werden, die mit einem Vorsprung an Bildung und Einkommen, mit sozialem Prestige und Selbstbewusstsein auftreten. „Vielmehr sollen wir den Menschen in jenen Ländern als Suchende begegnen, die empfangen wollen und als Dank dafür geben, was sie zum Leben der anderen beitragen können.“  Er kritisiert folglich die „plumpe Zweiteilung in „die Armen“ und „die Helfenden“. Und er kritisiert die Auffassung, dass Geld das entscheidende Mittel von Hilfe sei. Er kritisiert den christlich geprägten Drang, mit Geld zu helfen, Almosen zu geben. Er weist auf den möglicherweise egoistischen Akt des Gebens hin. Und er zeigt, wie schnell Arme völlig überfordert sind, wenn ihnen ein größerer Geldbetrag zufließt. Er zeigt, wie schnell Hilfe scheitert, wenn sie den Armen nicht in akzeptabler Weise gebracht wird. Er propagiert deshalb, konstruktives Geben, echte „Hilfe zur Selbsthilfe“.

Entwicklung müsse ganzheitlich gesehen werden, den ganzen Menschen erfassen, und nicht nur wirtschaftlich. Sie müsse „seine Intelligenz, seine Gefühle, seine Wertvorstellungen, seine praktischen Fähigkeiten, seine soziale Kompetenz aktivieren und reformieren“. Mit dem Bau einer Toilette z. B. sei wenig getan, wenn die Menschen ihr diesbezügliches Verhalten (einschließlich der Reinhaltung der Anlage) nicht grundlegend ändern. Die meisten verfehlten Entwicklungsprojekte seien genau daran gescheitert, dass sie „nicht die Situation der Menschen in ihrer Gesamtheit erkannten und berücksichtigten“. Auch der Kauf eines Motorrads z. B. müsse „moralisch und emotional verkraftet werden“ – und nicht nur vom Käufer selbst, auch von seinem Umfeld. Statt eines Entwicklungshelfers verlangt Kämpchen einen freundschaftlichen „Begleiter“, der den Menschen Anregungen gibt und bei der Durchführung von Maßnahmen berät.

Kämpchen erhebt quasi seine Tätigkeit in zwei bengalischen Dörfern zum Modell. Seine „Programme“ bestanden darin, dass Schulkindern bei Hausaufgaben geholfen wurde, so dass sie die Schule nicht mehr abbrachen. Eine Basisgesundheitsversorgung und das Pflanzen von Bäumen waren weitere „Programme“. In jedem Dorf baute er einen „youth leader“ auf, dessen Bildung und Ausbildung er förderte, um dann selbst als Vorbild und Helfer zur Selbsthilfe gegenüber anderen Jugendlichen zu wirken. Daneben gibt der „Begleiter“ Rat bei vielen eigenen Tätigkeiten der Dorfbewohner, wenn er das Vertrauen dieser Menschen hat. Das Ziel dieser Hilfe ist es, die betreffenden Menschen zu einem bescheidenen, aber gesicherten Wohlstand zu führen, der sie frei macht von der täglichen Angst vor persönlichen Katastrophen, aber auch von sehr einengenden Traditionen. Das ist ihm in den genannten beiden Dörfern nach etwa 20 Jahren offenbar gelungen. Aber das zeigt zugleich die Grenzen der Übertragbarkeit, der Multiplizierbarkeit seines persönlichen Modells der Hilfe zur Selbsthilfe.

Bei der dritten Frage “Wie sollen wir uns angesichts der Armut verändern?“ wird Kämpchen missionarisch. Denn er empfiehlt nicht nur, dass viele nach „Indien“ reisen, um in Projekten wie seinen mitzuhelfen, oder gemeinnützige Organisationen, die sinnvolle Projekte mit Armen durchführen, finanziell zu unterstützen. Er empfiehlt auch, dass wir, die Menschen in Europa, zu einem einfacheren Lebensstil zurückfinden, dass wir uns über unsere wirklichen Bedürfnisse wieder klar werden, daran orientieren, was zu unserer Zufriedenheit wirklich nötig ist. Das ist keine Forderung, aber ein dringender Rat. Jeder möge bei all seinen Gütern und Aktivitäten überdenken, ob man das wirklich braucht, ob man nicht mit einem kleineren Auto oder gar Fahrrad auskommt, ob andere Luxusgüter nicht entbehrlich sind. So sieht er „tausend Möglichkeiten, die materielle Basis des Lebens bewusst zu reduzieren“.

Hier beschreibt Kämpchen im Grunde sein Lebensmodell – das ihm Zufriedenheit ermöglicht. Zugleich erinnert er an Gandhi’s Lebensmodell der „trusteeship“, womit gemeint ist, dass einem selbst nur die Dinge wirklich gehören, die man „berechtigterweise“ zum Leben benötigt; alles, was einem darüber hinaus gehört, sei einem nur anvertraut, um Gutes für andere damit zu tun. Das eigene einfache Leben soll jedem ermöglichen, „den Armen durch Einfachheit gerecht (zu) werden“. Eine solche freiwillig gewählte Grundhaltung entspricht für Kämpchen nicht nur einem christlichen Lebensstil, sondern sie ist für ihn auch eine Voraussetzung für Glaubwürdigkeit, um das Ziel der Armutsüberwindung in Ländern wie Indien überzeugend angehen zu können.

Die ersten beiden Teile des Buches sind sehr hilfreich. Alle, die sich mit Armutsbekämpfung in Entwicklungsländern befassen, können hier lernen, wie komplex der Dschungel einer Armutssituation ist und wie behutsam jeder Angang sein muss. Die Warnungen vor zu schnellem Einsatz von Geld können nicht oft genug wiederholt werden. Denkbar ist auch, dass das Lebenswerk des Autors Schule macht, dass sich einige angesprochen fühlen und sich künftig einer solchen Aufgabe verschreiben. Auch der Aufruf zur Unterstützung geeigneter Nichtregierungsorganisationen, die über das nötige Einfühlungsvermögen verfügen, macht Sinn und wird vielleicht befolgt.

Sein Aufruf an die Menschen in Europa, selbst und freiwillig zu einem einfacheren Leben überzugehen, ist zwar verständlich und plausibel, aber wohl wirkungslos, um nicht zu sagen weltfremd, so lange nicht prominente Vorreiter in großer Zahl ein solches Leben vorleben.

Insgesamt müssen aber auch Bedenken bezüglich der von ihm propagierten Strategie angemeldet werden. Mit seinem „wirtschaftsfernen“ Ansatz verzichtet er auf mögliche Hebelwirkungen. Wenn seine Strategie dadurch ergänzt würde, dass durch geeignete Maßnahmen der Wirtschaftspolitik die Produktivität eines jeden Einzelnen gesteigert werden könnte, so wäre auch eine Beschleunigung der von ihm angestrebten Prozesse möglich. Das könnte heißen, dass Lastenträger eine Schubkarre erhielten, Boten ein Fahrrad, Fischer einen Außenbordmotor für ihre Boote oder die Marktfrauen Handys etc. Das sollte sich in Kämpchens Strategie gefahrlos einbauen lassen.

Der Kommentar wäre höchst unvollständig, würde man die Diktion des Buches nicht würdigen. Nicht nur ist es höchst einfühlsam geschrieben, manche Kapitel haben gar literarischen Charakter.  Das Buch liest sich mit mancherlei Gewinn.

 

Hans-Gert Braun ist Professor der Volkswirtschaftlehre. Fast 40 Jahre lang hat er an der Universität Stuttgart gelehrt. 25 Jahre lang war er auch Mitherausgeber und Chefredakteur der Zeitschrift Internationales Afrikaforum. Er hat eine Reihe wirtschaftswissenschaftlicher Bücher verfasst und etwa 250 Aufsätze zu wirtschafts- und entwicklungspolitischen Themen veröffentlicht. 2010 erschien sein Buch: Armut überwinden durch Soziale Marktwirtschaft und Mittlere Technologie. Ein Strategieentwurf für Entwicklungsländer (LIT).

Weblink: Herder Verlag

 

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