Rabindranath Tagore – 150 Jahre (“Stimmen der Zeit”)

Stimmen der Zeit, Mai 2011

Rabindranath Tagore – 150 Jahre

Als dem indischen Dichter Rabindranath Tagore am 14. November 1913 der Nobelpreis für Literatur verliehen wurde, fragte jeder: Wer ist dieser Dichter mit dem schier unaussprechlichen Namen? Die schwedische Akademie, die den Preis verliehen hatte, veröffentlichte einen Lebenslauf, der mehr märchenhaft als realistisch war und zu den orientalisierenden Phantasien der Europäer eher beitrug, anstatt sie abzubauen. Bis heute bleibt Tagore der Mann mit dem langen Bart und dem würdigen Antlitz, den die Kinder, als sie ihm in den 20er Jahren in Deutschland begegneten, voll bewunderndem Schrecken den „lieben Gott“ und „Gott Vater“ nannten. Seine Fama als „Mystiker“, „Prophet“ und „Weiser“ lässt sich nicht ganz abschütteln. Weiterhin erscheinen seine Sprüche in Kalendern und Erbauungsbüchlein, kommen Bücher mit idyllischen Fotos, garniert mit seinen Texten, heraus. Obwohl inzwischen auch in Deutschland genug Möglichkeit besteht, von diesem verniedlichenden Tagore-Bild abzurücken und ihn als Dichter von Weltliteratur, als Pionier der Pädagogik, als modernen Maler und Religionsphilosophen kennenzulernen.[1]

Es war die Zeitschrift „Stimmen aus Maria Laach“, die Vorgängerin der „Stimmen der Zeit“, die unmittelbar nach dem Nobelpreis in einem Essay des Jesuiten Jakob Overmans[2] manche der Spannungen voraussah, die das Werk Tagores in Europa auslösen würde. Der Autor zitierte die ekstatischen Verlautbarungen des holländischen Schriftstellers Frederik van Eeden, der schrieb, „dieses Ereignis sei bei weitem das wichtigste aller, die das 20. Jahrhundert und gebracht hat“. Er nannte auch schon die alte Behauptung, Hindus – in diesem Fall Tagore – seien die besseren Christen, frei von „Pose“, „Heuchelei“ und „Affektiertheit“, während Europa von „okzidentalen Pseudochristen“ bevölkert sei. „So arm ist also ein gewisses Europa geworden, daß es seine geistige und religiöse Erneuerung wieder einmal von der heidnischen Weisheit Indiens erhofft!“ bedauerte Overmans. Dies war keine Klage gegen den indischen Dichter, von dem zu diesem Zeitpunkt noch keine Zeile auf Deutsch erschienen war, sondern gegen die selbstanklägerische Lobhudelei jener Schönredner, die voreilig Tagore zur Religion erheben und das abendländische Christentum mit dem Bade ausschütten wollten. Heute spricht man ausgewogener, doch dieselben Denkmodelle stehen weiterhin im Raum, die der nüchternen Einschätzung Tagores im Weg stehen.

Tagore wurde ausgezeichnet für ein Werk, das einzige, das damals in englischer Sprache erschienen war: Gitanjali, eine Sammlung von lyrischen Prosatexten mit emotional-mystischem Inhalt. Tagore hatte sie selbst aus seiner Muttersprache, dem Bengalischen, übersetzt und in London mit Hilfe des irischen Dichters William Butler Yeats veröffentlicht, der auch eine bewundernde Einführung schrieb. Das war 1912. Ein Jahr später erhielt er für diesen schmalen Band den Nobelpreis. Tagore war der erste Nobelpreisträger der nicht-westlichen Welt. Viele Länder in Asien, Afrika und Südamerika waren damals im Griff europäischer Kolonisatoren, die sie nicht nur politisch knechteten, sondern auch kulturell demütigten. Darum wertete der Nobelpreis des Inders die Kultur, vor allem die Literatur, seines Landes auf, aber auch die aller Länder der „Dritten Welt“. So konnte es geschehen, daß Tagore sich als Stimme Indiens, als Stimme Asiens und der unterdrückten Völker empfand und in ihrem Namen neun große Weltreisen unternahm, auf denen er den Dichtern und Gelehrten, aber auch den Politikern der Gastländer begegnete. Er setzte sich für Völkerverständigung ein, für die Verständigung vor allem zwischen „Ost“ und „West“, womit damals Asien und die westliche Welt gemeint waren, zwischen den Kulturen und den Religionen. Er sprach sich gegen Nationalismen jeder Couleur aus, auch gegen den Zionismus, und für eine Annäherung von Kolonialmächten und kolonisierten Völkern auf der Basis humanistischer Gemeinsamkeiten.

Rabindranath Tagore wurde 1861 in Kalkutta in einer wohlhabenden und kulturell regen Familie geboren. Jedes der 13 Geschwister Rabindranaths war außergewöhnlich begabt. Früh fand er zur Lyrik, früh schrieb er Lieder und Theaterstücke, die im Hof des großen Familienhauses aufgeführt wurden. Von Anfang war Tagore ein Multitalent: Er schrieb nicht nur die Theaterstücke, sondern komponierte Lieder für sie, entwickelte einen eigenen Tanzstil, führte Regie und stand selbst als Schauspieler, Sänger und Tänzer auf der Bühne. Er verstand Theater nicht nur als schöne Unterhaltung, sondern als pädagogische Anstalt, nämlich als Mittel, den Jungen und Mädchen der Schule, die er später gründete, die Welt zu eröffnen. Darin sieht sein Engagement für das Theater dem Goethes ähnlich.

Mit dreißig Jahren war Tagore der bekannteste Lyriker seiner Sprache; er hatte geheiratet und zog fünf Kinder auf. Das Herumgenialisieren war vorbei. Sein Vater schickte ihn als Aufseher zu den Liegenschaften der Familie (im heutigen Bangladesh), wo er zum ersten Mal die harte Wirklichkeit des bäuerlichen Lebens kennenlernte. Er beschrieb es in Erzählungen und Briefen und setzte sich für die Pachtbauern seiner Familie ein. Das ländliche Leben ließ ihn nicht mehr los.

Ein Jahrzehnt später, 1901, zog er mit seiner Familie nach Santiniketan, 150 Kilometer nördlich von Kalkutta, wo Rabindranaths Vater einen Landsitz eingerichtet hatte. Dort gründete Rabindranath für seine eigenen Kinder und einige andere eine Schule, die seine schöpferischen Vorstellungen einer musischen, persönlichkeitsbildenden Erziehung umsetzen sollte. Von Santiniketan aus wirkte er einige Jahre im politischen Kampf um nationale Identität und Unabhängigkeit an führender Stelle mit. Inmitten dieser ständigen Aktivitäten ergoss sich ein Strom von Lyrik – insgesamt erschienen rund sechzig Gedichtbände – von Romanen, Erzählungen, Essays, Dramen und Briefen; außerdem schrieb und komponierte er über zweitausend Lieder, von denen viele zum heutigen Volksliedgut der Bengalen gehört.

In seiner Lyrik erneuerte er sich bis zu seinen letzten Gedichten immer wieder. Die lyrisch-liedhaften Gedichte wandelten sich zu komplexen Hymnen, zu dramatischen Balladen und mündeten in existentiell fragende, wortkarge Gedichte, die auf Reim und Vers verzichtend die Alltagssprache vorzogen. Liebes-, Natur- und religiöse Lyrik durchziehen sein Werk wie kräftige Silberfäden ein Tuch. Aber auch Ironie, Humor, kindliche Lyrik und Nonsens-Verse entstanden aus seiner Feder. Seine religiöse Lyrik wendet sich gegen die asketische Tradition des Hinduismus; er will eine welt- und sinnenbejahende Spiritualität – eine Idee, die ihn ein Leben lang umtrieb und zu zahlreichen Gedichten inspirierten. Gegen Lebensende dichtete er:

Wie mein tiefstes Begehren

wahr ist und echt,

so ist mein tiefstes Entsagen

aufrecht und fest.

In beider Mitte jedoch herrscht eine heimliche Einheit.

Wie könnte sonst

das All eine so entsetzliche Spannung

so lange Zeit so heiter ertragen.[3]

Der Nobelpreis änderte Tagores zurückgezogenes Leben auf dem Lande drastisch. Plötzlich war er eine internationale Berühmtheit geworden, die herumgereicht und bejubelt wurde. Er reiste durch Japan und China, fuhr bald nach dem Ersten Weltkrieg nach Amerika und Europa, besuchte Südamerika, Ägypten, später den Iran und Irak. Er ließ sich von Mussolinis Italien und der kommunistischen Soviet Union einladen. Er traf Gelehrte und Dichter, Politiker und hielt überall Lesungen seiner Lyrik und Vorträge. Deutschland bereiste er dreimal mit überwältigendem Erfolg (1921, 1926 und 1930), Österreich zweimal (1921, 1926). Der bekannte Kurt Wolff Verlag übertrug sämtliche Werke, die auf Englisch von Tagore oder seinen Gefährten übersetzt wurden, unverzüglich ins Deutsche, so daß zwischen 1914 und 1925 nicht weniger als 25 Bücher erschienen, ebenso eine achtbändige Ausgabe von Gesammelten Werke. Nach Verlagsauskunft brachte es Tagore auf eine Gesamtauflage von über einer Million.

Der indische Dichter ließ sich von dem baltischen Philosophen Hermann Keyserling zu einer „Tagore-Woche“ in Darmstadt bewegen, er traf Siegmund Freud in Wien, Stefan Zweig in Salzburg, Thomas Mann in München, Martin Buber und Paul Natorp in Darmstadt, Rudolf Otto in Marburg, Albert Einstein mehrmals in Berlin. Bertolt Brecht, Rainer Maria Rilke, Hermann Hesse, Franz Kafka, Heinrich Zimmer und Albert Schweizer schrieben über ihn.

Tagores Ruhm verblasste, als die Nazizeit begann, während der er totgeschwiegen wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg konnten seine alten Bücher neu aufgelegt werden. Doch dauerte mehrere Jahrzehnte, bis seine Werke in authentischen Übersetzungen aus dem bengalischen Original erschienen.[4] Solche Übersetzungen, sowie Tagores Belebung auf der Bühne, wie schon mit dem zeitlosen Stück Das Postamt geschehen, können Tagore in unserer kollektiven Vorstellung jenen Platz sichern, den er verdient: als nationalen Dichter Indiens, der ein Zeitalter prägte, und als Vertreter der Weltliteratur, dessen Werke und Ideen weiterwirken und auch unser europäisches Geistesleben in vielfacher Weise neu zu beleben vermag.

Zum 150. Geburtstag in diesem Mai bringt der Insel Verlag eine neue Übersetzung von „Gedichten und Liedern“ aus dem Bengalischen heraus, das Deutsche Literaturarchiv Marbach widmet ein „Marbacher Magazin“ dem Thema „Rabindranath Tagore und Deutschland“ und im Heidelberger Draupadi-Verlag erscheinen mehrere Bände, so „Mein Tagore“ von Alokeranjan Dasgupta und „Mein lieber Meister“, die Korrespondenz Tagores mit seiner deutschen Übersetzerin Helene Meyer-Franck.

Martin Kämpchen


[1] Siehe meine Monographie im Rowohlt Verlag (rororo 50399) und ihre Bibliographie.

[2] Jakob Overmans S.J., Rabindranath Tagore, in: Stimmen aus Maria Laach 86 (1913/1914) S. 485 f. („ausgegeben am 21. Januar 1914“).

[3] Rabindranath Tagore, Gedichte und Lieder. Ausgewählt und aus dem Bengalischen übertragen von Martin Kämpchen. Insel Verlag, Berlin 2011, S. 64.

[4] Rabindranath Tagore, Das goldene Boot. Lyrik, Prosa, Dramen. Hrsg. von Martin Kämpchen. Aus dem Bengalischen übersetzt von Rahul Peter Das, Alokeranjan Dasgupta, Hans Harder, Martin Kämpchen und Lothar Lutze; aus dem Englischen übersetzt von Andor Orand Carius und Axel Monte. Verlag Artemis & Winkler, Düsseldorf / Zürich 2005 (Winkler Weltliteratur).

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