Interview in Meine Welt für Sommerausgabe 2016

Interview in Meine Welt für Sommerausgabe 2016

Die Fragen an Martin Kämpchen stellte Jose Punnamparambil

 

  1. Sie leben in Indien als deutscher Kulturjournalist und Buchautor seit über 40 Jahren. Was war Ihre anfängliche Hauptmotivation, nach Indien für längere Zeit zu gehen?

Als ich nach meinem Studium nach Indien ging, wollte ich etwas Neues erleben, etwas, das mir Europa nicht bieten kann. Schon als Student in Wien hatte ich drei Monate lang Indien bereist und war überrascht und bewegt über meine Erlebnisse.

  1. Haben Sie heute, nach 40 Jahren, das Gefühl dass Sie von den Einheimischen voll akzeptiert werden? Oder fühlen Sie sich heute noch als Fremder in Indien?

Ich habe aus verschiedenen Gründen nicht geheiratet, vor allem darum, weil ich mit Familie niemals das hätte tun können, was ich anstrebte: erstens, als Schriftsteller selbstbestimmt zu existieren und zweitens, ein soziales Werk unter den Menschen zu beginnen. Beides sind unsichere und experimentelle Tätigkeiten, die mit Familie schwer möglich gewesen wären. Als Einzelgänger habe ich es erreicht, ohne Anstellung, freischaffend zu überleben und frei zu wählen.

Der Nachteil ist jedoch ist, daß man als Einzelner in Indien nie ganz integriert ist. Inder sind Familien-orientierte Menschen und vor allem als Familie und in Familien kann man integriert werden.

Jahrzehnte lang schaute man mich mit Argwohn an, weil man nicht wusste, warum ich so lange in Indien wohne. Meine deutschen Bücher und Artikel verstand man nicht, meine Sozialarbeit in den Dörfern erschien den Menschen ohne Motiv („Was hat er davon?“) Erst als meine Übersetzungen von Tagore und Ramakrishna auch in Indien bekannter wurden, als ich begann, auf Englisch zu publizieren, zeigte man mir mehr Verständnis, man lud mich überall in Indien zu Vorträgen ein und integrierte mich akademisch und als „public intellectual“.

Andererseits muß ich gestehen, daß ich auch in Deutschland früher und während meiner Besuche nie voll integriert war und bin. Kehrte ich zurück, würde ich weiterhin unintegriert bleiben. Es ist wichtig, kreativer Einzelgänger zu sein und als solcher einen gerechten Lebensstil zu suchen.

  1. Kann sich ein Deutscher, nach Ihrer Meinung, in das indische Leben integrieren? Welche wären die Hauptschwierigkeiten?

Wie gesagt, mit Familie kann man sich als Deutscher leichter integieren. Vollständige Integration sollte man nicht anstreben, denn das hieße, auch die Schwächen und Nachteile des indischen sozialen Lebens anzunehmen.

  1. Indien hat sich in den letzten 40 Jahren gewaltig verändert. Wie beurteilen Sie die Veränderungen, wie zum Beispiel, im gesellschaftlichen Leben, in Demokratiepraxis, bei wirtschaftlicher Entwicklung und bei Haltungen bezogen auf Umweltschutz und Menschenrechte?

Das ist ein gewaltiges Thema. Die sichtbarsten und einschneidensten Veränderungen sind Folge des Bevölkerungszuwachses, der Veränderungen auf allen Ebenen des sozialen Lebens verursacht. Die erbitterten Kämpfe um Agrarland, um Wasser, um mehr und bessere Straßen und insgesamt um eine bessere Infrastruktur, um mehr und bessere Jobs, um ein besseres und umfangreicheres Bildungs- und Gesundheitssystem hängen mit der ausufernden Bevölkerung zusammen. Die sozialen Spannungen und die soziale Ungerechtigkeit haben sich verschärft.

Die Modernisierung auf dem technologischen und elektronischen Gebiet ist dagegen atemberaubend und durchaus positiv. Ohne Fernsehen, Handy und Smartphone, Internet und Computer ist Indien nicht mehr denkbar. Das Internet dringt bis in den letzten Winkel des Landes vor. Keine andere Infrastruktur konnte sich so rasch durchsetzen. Diese Modernisierung ist auch notwendig, um die Menschenmassen zu „kontrollieren“ und den sozialen Frieden zu sichern.

Wegen der Überbevölkerung wird weniger Gewicht auf Umweltschutz und Menschenrechte gelegt, als notwendig. Die Versorgung der Bevölkerung und der soziale Friede gelten als vorrangig.

  1. Als Journalist waren Sie besonders an kulturellen Themen interessiert. Befindet sich Indien heute in einer Identitätskrise? Wie erklären Sie den wachsenden Nationalismus und die zunehmende Intoleranz gegenüber Andersdenkenden im heutigen Indien?

Die indische Bevölkerung hat dank der modernen Medien immer mehr Vergleichsmöglichkeiten bekommen. Dadurch entsteht Neid und Gier: „Was die anderen bekommen, will auch ich haben.“ Ich glaube, der Nationalismus ist wesentlich aus diesem Neid geboren; er ist also kein echter Nationalismus, der sagt „My country right or wrong!“, sondern er nährt sich im Gegenteil aus einer inneren Abwehr gegen die eigene Heimat. Vor die Wahl gestellt, möchten viele lieber im Westen leben, anstatt sich in den indischen Metropolen abzukämpfen.

Der Nationalismus ist nicht zu verwechseln mit dem religiösen Fundamentalismus. Der Hinduismus ist, so glaube ich, eine zutiefst friedfertige Religion, eben auch weil der Hinduismus durch das Kastenwesen gesellschaftlich statisch angelegt ist und dieses Gefühl „Jeder hat seinen Platz im Gesellschaftsgefüge“, internalisiert ist. Nur wenn der Hinduismus politisiert wird, wird er dynamisch und das heißt aggressiv, eng, identitätsversessen. Die Politik instrumentalisiert die Religion zu gunsten des Gewinnstrebens der Politiker. Das einfache Wahlvolk wird emotonal ausgebeutet.

  1. Schätzungsweise leben heute ca. 300 Millionen Inder/Inderinnen unter der Armutsgrenze- etwa viermal so groß wie die Bevölkerung  der Bundesrepublik Deutschland. Was, nach Ihrer Meinung, ist die Hauptursache dieser weitverbreiteten Armut in Indien? Haben Sie Ideen zur Lösung dieses Problems?

Die Armut ist, wie die Soziologen wissen, ein Verteilungsproblem, also ein Problem mangelnder Gerechtigkeit. Das Land könnte seine Bevölkerung ausreichend ernähren. Es ist aber auch ein Problem falscher Prioritäten. Wie der Wirtschaftswissenschaftler Amartya Sen immer wieder betont, wird für das Bildungswesen und die Gesundheitsvorsorge zu wenig investiert. Man hat auf Industrie und Technologie gesetzt und die Urbedürfnisse Nahrung, Gesundheit und Bildung vernachlässigt. Hier muß unbedingt eine andere Prioritätenliste entstehen.

  1. Herr Kämpchen, Sie leben in Indien alleine, teilweise in Santiniketan und teilweise in dem Santaldorf Ghosaldenga. Wo wollen Sie Ihren Lebensabend verbringen, in Indien oder in Deutschland? Warum?

Im Augenblick wohne ich etwa neun Monate des Jahres in Indien. Ich möchte so lange wie möglich mindestens das halbe Jahr in Santiniketan verbringen. Die Hitze und die Luftfeuchtigkeit machen mir zu schaffen, doch bisher ist meine Gesundheit recht stabil geblieben. Wenn ich einmal mehr gesundheitliche Versorgung und ein „leichteres“ Leben brauche, ohne die ständigen Alltagsprobleme in Indien, dann werde ich mich in Boppard, meinem Heimatort in Deutschland, zurückziehen; dort habe ich eine kleine Mietwohnung in meinem (verkauften) Elternhaus. Ich werde mit einer schmalen Rente hoffentlich auskommen.

Wie lange ich mehrzeitlich in Indien verbringe, kommt auch darauf an, wie schnell ich meine Mitarbeiter in den Dörfern in die vollkommene Eigenverantwortung entlassen kann. Viel war möglich in den 30 Jahren meiner Dorfarbeit, doch spüre ich auch deutlich, und zwar ohne Eitelkeit, wie stark ich noch nötig bin, damit neue Impulse gegeben und umgesetzt werden, damit Disziplin und Engagement einen hohen Standard behalten.

Mein persönliches Hauptproblem in Indien ist, daß ich seit 1973 auf ein indisches Visum angewiesen bin. Immer wieder muß ich meinen Aufenthalt neu rechtfertigen, mir Fürsprecher suchen und Anträge stellen – obwohl ich so viel für dieses Land getan habe, auf kulturellem und sozialem Gebiet. Es ist demütigend. Positiv gewendet: es ist eine gute existentielle Übung, immer nur „Gast auf (indischer) Erde“ zu sein.

 

 

 

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