Kleine Philosophie des nachdenklichen Reisens (“Lettre International”)

[Vortrag in der Philosophisch-Literarischen Gesellschaft, Baden-Baden;
im Radio übertragen: Von der Bildungsreise zum Billigflug und zurück?“ – Kleine Philosophie des nachdenklichen Reisens. SWR 2, 10.8.2008, 23.03 bis 0.00 Uhr
veröffentlicht: Erlebnisreise, Lebensreise. Heimat, Abenteuerlust, Unbehaustheit und Wege zur Transzendenz. In: Lettre International Nr. 82 / Herbst 2008]

 

Kleine Philosophie des nachdenklichen Reisens

von Martin Kämpchen

I

Erinnern sich die Fünfzigjährigen und Älteren unter uns an die ersten Reisen als junge Menschen? An die wochenlang genährten Erwartungen vor Reisebeginn, an die Erlebnisfrische, die Begeisterung während dieser Reisen? Damals empfanden wir deutlich das Reisen als ein existentielles Ereignis. Jede Reise war eine neue Schöpfung, die sich vom Gewesenen trennte und es zurückließ. Mit jeder neuen Reise erfaßte uns dieses unsägliche, aus Wonne und Grausen gemischte Gefühl, ins Ungewisse geworfen zu werden. Wir konnten ihm nicht mehr ausweichen, denn wir durften nicht einfach sagen: „Ich bleibe zu Hause.“ Wir mußten unseren Mut zusammenraffen und den ersten Schritt auf das unbekannte Terrain machen.

Wenn die Krücken der Gewohnheit und menschlichen Unterstützung, jeder tragfähigen Infrastruktur plötzlich weggerissen sind und das Gefühl, mit sich selbst zu sein, bleibt, weckt das Angst. Sie kommt über die Menschen, wenn sie plötzlich des unbarmherzigen Fortlaufs der Zeit gewahr werden und die Wucht spüren, mit der sie selbst in der Zeitbewegung mit fortgeschleudert werden. Dieses existentielle Schwindelgefühl angesichts der Zeitbewegung entsteht selten im Alltag, wenn Zeitbewegung und Eigenbewegung in einem scheinbaren Gleichtakt marschieren. Eine Disharmonie entsteht erst, wenn der Alltag endet und nicht sofort etwas Ähnliches an seinen Platz tritt. Eine neue, ganz andere Bewegung entwickelt sich, die des Reisens, zu der wir unseren Gleichtakt erst mühevoll und allmählich entdecken und einüben müssen.

Beim Reisebeginn ahnten wir oft, daß wir – von den Verkleidungen des Alltags und der Gewohnheit befreit – eigentlich, existentiell, immer nur Reisende, Wanderer sind. Ich bin ein homo viator – ein wandernder Mensch. Und warum wandern wir? Weil wir auf der Suche sind, zwar immer finden, aber nie genug und nie endgültig finden; weil wir zwar immer ankommen, aber doch nie das Ziel entdecken. Wie die Zeit an kein Ziel kommt und nie aufhört, sich weiterzubewegen, ebenso kommen wir – von einem unsichtbaren Sog gezogen – an kein Ziel. Was wir eigentlich zu finden hoffen, indem wir immer weitersuchen und weiterfinden, ohne dabei an ein Ende zu kommen, können die wenigsten von uns zunächst in einen Satz fassen. Es liegt etwas Unbefriedigendes, Unerfreuliches, vielleicht sogar tragisch Sisyphushaftes in dieser Not, immer zu suchen, immer weiter zu wandern, nie an ein Ziel zu kommen. In leeren Momenten, in denen uns die conditio humana in einem grellen Lichtschlag anstarrt, erleben wir eher schmerzlich dieses Unstillbare des menschlichen Lebensdurstes, anstatt uns dankbar des Geschenkes bewußt zu sein, suchen zu dürfen und niemals stillstehen zu müssen. Gern kämen wir an ein Ende der Reise, um dann sagen zu dürfen: „Das ist’s, was ich gesucht habe!“ Und: „Es hat sich gelohnt, daß ich gesucht habe!“ Gern kämen wir an ein Ende – aber ungern wollen wir sterben, ungern möchten wir dieses erlösende „Das ist es!“ mit dem Tod verbinden. So rätselhaft widersprüchlich ist unser Wollen.

Noch einmal: Was suchen wir auf unseren Reisen? In diesen leeren Momenten heftiger Existenz-Erkenntnis können wir vielleicht unterschiedliche Namen dafür erfinden: Es ist die Suche nach unserer Kindheit, nach dem Ursprünglichsten und Reinsten unserer Kindheit, das es vielleicht niemals gegeben hat, das wir uns, je älter wir werden, nur um so reiner und ursprünglicher vorstellen. Es ist, allgemeiner ausgedrückt, die Suche nach einem pränatalen Zustand, zu dem wir – immer weiter lebend, niemals sterbend – zurückkehren wollen, die Suche nach dem Paradies, nach einem Schwebezustand nämlich, in dem diese uns bekannte Welt greifbar bleibt, in dem wir nichts aufgeben, aber wir dennoch alles in einem idealen Zustand der Fülle und Vollkommenheit genießen dürfen: eine vollkommene Gesundheit, gute Speisen und Getränke, wunderbare, uns erfüllende, sinnliche und geistige Liebe und die Enthobenheit von diesem ärgerlichen, immerzu an uns nagenden Fluß der Zeit mit seinen Erscheinungen von Alter und Dämpfung der Vitalität.

Nein, den Tod wollen wir nicht! Dann müßten wir ja den Körper und mit ihm alles, was uns wohltut, nämlich Sinnengenuß und Geistesgenuß, aufgeben. Mit anderen Worten, auf unserer Lebensreise suchen wir die ideale Kindheit, das Paradies, die Erlösung vom Sog der Zeit – nicht jedoch die Transzendenz, noch nicht die Aufgabe unseres weltlichen Lebens zugunsten einer unbekannten überweltlichen, transzendenten Sphäre. In der Transzendenz enden alle Reisen, endet alle Unruhe, alle Bewegung. Und davor zittern wir. Uns ermüdet die Unrast, trotzdem wollen wir uns nicht in das Ganz-Andere transzendenter Stummheit fallen lassen… Aber damit nehme ich schon das Ende unseres Nachdenkens voraus und halte ein.

 

An dieser Stelle genügt es, festzustellen: Wenn wir zu einer Reise aufbrechen, reisen wir im Grunde doppelt: Einmal setzen wir unsere Lebensreise fort, sodann reisen wir auch von einem Ort zu einem anderen Ort – nennen wir es Erlebnisreise. Es gibt also eine doppelte Bewegung, und darum ist unsere Erlebnisreise eine beschleunigte Bewegung. Die Erlebnisreise ist eine Lebensreise im komprimierten Rahmen von Raum und Zeit, und darum um so intensiver. Reisen heißt also: zweimal leben, weil es das Abbild der Lebensreise ist. Das eigene Leben von Geburt bis Tod zusammenzudrängen und aus ihm die Energie und die Erkenntnis der gesamten Lebensreise herauszukeltern, ist gewiß das unbewußte Ziel, die „Verführung“ einer Erlebnisreise. Darum entsteht wohl auch so viel Energie und so viel Begeisterung am Beginn jeder Reise.

Wir beschreiben hier die Reise als konzentriertes Extrakt der Lebensreise. Im Gegensatz dazu können wir eine Reise aber ebenso als eine Flucht vor der großen Lebensreise beurteilen. Wir verdrängen die Verantwortungen und Pflichten unseres Lebens, eine Zeitlang befreien wir uns von ihnen. Darum kann eine Erlebnisreise auch spontan und ohne ernsthaftes Engagement gelingen, anders als die große Lebensreise. Wir erfreuen uns an raschen Kontakten, raschen Befriedigungen, raschen Erfolgen, erreichen geschwind unsere Ziele und wiegen uns fröhlich in der Vorstellung, das Leben gehe ebenso leicht und glatt vonstatten. Zurückgekehrt, erkennen wir verblüfft unseren Irrtum.

Diese Fluchten geschehen oft in dem merkwürdigen Zustand eines milden Dauerrausches. Im Erkenntnisblitz wird uns klar: Genau so sollte das Leben auch sein! Alles erscheint neu und rein, wir sind von der Vergangenheit unbelastet. Da niemand in der Umgebung unsere Vergangenheit kennt, können wir sie auf Reisen zurücklassen. Wir definieren uns neu, interpretieren unseren Charakter schmeichelhaft, unsere Erfolgschancen optimistisch. Plötzlich ist „alles“ wieder möglich. Auf der Reise wird unser Leben – wie in früher Jugend, als wir uns unserer Kräfte bewußt wurden – in eine reine Potenz gehoben. Mit anderen Worten: wir leben magisch. Der Magier kann alle Umstände seines Lebens eigenhändig bestimmen. Er hängt von nichts und von niemandem ab. Der Magier bestimmt die Orte und die Menschen, denen er begegnet, er allein hat in seiner Gewalt all das Wunderbare, das er erlebt. – Nur: wie lange währt der Zauber? Was geschieht nach der Reise?

 

II

Seit meiner Jugend bin ich gern und fasziniert gereist. Damals gab es noch keine Billigreisen und keine package tours, die schon alles enthalten – vergleichbar mit jenen Suppentüten, in denen die Gewürze, die Tomatensoße und die Anleitung zum Umrühren getrennt drinstecken. Das war noch die Zeit, in der wir zum Bahnhofsschalter gingen und nach langem Pallaver mit dem Beamten die Fahrkarte kauften; in denen wir über Landkarten brüteten, Freunde ausfragten, Briefe schrieben, Kontakte knüpften zu Fremden, damit sie Briefe in ihre Heimat schreiben sollten. Es war eine Zeit, als ein entferntes Reiseziel noch fern lag, und es noch ebenso teuer war, dieses Ziel zu erreichen. Einerseits verbrachten wir Monate, die Reisen vorzubereiten, wir versuchten, an alles zu denken, was passieren könnte; andererseits aber waren wir zur Spontaneität mehr als bereit, und etwas geschah immer, was man nicht vorhersehen konnte und nicht von einer perfekten Tourismus-Infrastruktur aufgefangen wurde, die uns heute jedes Abenteuer abjagt.

Ich erinnere mich an eine Nacht im Wartesaal des Kölner Hauptbahnhofs gemeinsam mit strubbeligen Pennern, mißmutigen Säufern, cleveren Strichjungen und halbseidenen Damen – eine Nacht, die unumgänglich war, weil ich aus Hamburg kommend, in Köln keinen Zug nach Boppard mehr bekommen konnte. An die Bezahlung eines Hotelzimmers in Bahnhofsnähe war nicht zu denken. Ich erinnere mich an eine Radtour, bei der mich der Bauer in einem bairischen Dorf großzügig in seinem Schuppen, und zwar im ausrangierten Schweinetrog, übernachten ließ… Das waren Bagatellen, freundliche Abenteuer der normalen Art.

Wer heutzutage als junger Mensch Reiseabenteuer erleben will, muß sie schon suchen, sie sogar provozieren, etwa durch die Verbindung mit Extremsportarten, mit Extremzielen, mit der Ablehnung jeglicher Vorbereitung, oder mit der Weigerung, Geld zu investieren. Sie glauben, Trecks durch Tibet oder Ladakh oder die Mongolei gebe ihnen einen  Zuwachs an Lebensintensität, eine Lebensekstase, ähnlich wie ein Drogentrip oder eine Heulfahrt über den Nürnburgring mit dreihundert Stundenkilometern. Die Gefahr ist weniger, daß solche Menschen das Risiko falsch einschätzen und Schaden an Leib und Seele nehmen. Das mag zwar vorkommen. Aber die weitaus verbreitetere Gefahr ist – erstens –, daß sie nicht mehr in ihren Alltag zurückfinden, also den Rausch der Extremerfahrungen irgendwo in der Wüste oder im Gebirge nicht mehr mit ihrem Leben in Beziehung setzen können; und – zweitens –, daß diese Fahrten reine Egotrips werden, bei denen die Wüste oder die Berge in ihrer Großartigkeit und Schönheit und Einsamkeit nur die Folie für ihre Egomanie abgeben, und die Menschen, denen sie begegnen, überhaupt nicht in ihrem Eigenleben zur Geltung kommen. Was, fragen wir uns, haben diese Reisenden für ihr Leben gewonnen?

Auch heutzutage sind in Ländern wie Indien, Bangladesh oder Nepal wohlvorbereitete, durchaus normale Reisen möglich, die nicht reibungslos nach Plan verlaufen. Dort von heute auf morgen in Fernzügen einen Sitzplatz oder einen Liegewagenplatz zu reservieren, gelingt selten. Festtage, Urlaubszeiten, besondere Wallfahrten belegen die Züge häufig auf Wochen hinaus. Kommt dann ein Notfall, der eine übereilte Reise unablässig macht, dann gibt es zwei Möglichkeiten: Man gibt enorm viel Geld aus, um zu fliegen oder im Taxi lange Strecken zurückzulegen, oder man zwängt sich in die total verstopften unreservierten Zugabteile und Linienbusse.

Letzten September geriet ich in eine solche Situation, als ich in Kalimpong, einer Bergstadt unweit von Darjeeling, die Nachricht vom Tod meiner Mutter erhielt. Es war die Zeit des Monsuns. Die Straße von Kalimpong hinunter nach New Jalpaiguri in die Ebene war seit zehn Tagen wegen zahlreicher Erdrutsche gesperrt. Die Bergorte konnten nur über schmale, sehr weite Wege mit Jeeps versorgt werden. Taxis fuhren keine. Die Züge von New Jalpaiguri nach Santiniketan, meinem Wohnort vierhundert Kilometer südlicher, verkehrten auch unregelmäßig, weil einige Streckenteile vom Wasser überschwemmt und an anderen Stellen die Schienen unterspült worden waren. Die starke Bevölkerungsdichte macht Reisen in Indien so schwierig, doch andererseits ermöglichen die Menschen das Reisen auch. Ein Freund in Kalimpong half mir, die nötigen Informationen zu bekommen. Die Bergstraße sollte wieder geöffnet werden – doch wann? Der Zug sollte fahren, allerdings umgeleitet werden – doch über welche Strecke? Solche Informationen sickern durch, verbreiten sich gerüchteweise, man erfährt sie telefonisch über Freunde, die näher an den Quellen wohnen. Solche Informationen muß man dann einzuschätzen lernen und prompt nach ihnen handeln. Dieses Jonglieren mit Gerüchten, mit halben und ganzen, falschen und wahren Informationen bedarf einer lebenslangen Schulung. Nur Einheimische lassen dabei die Bälle nicht fallen. Also war mein indischer Freund unerläßlich, damit ich diese plötzliche Reise antreten konnte. Er begleitete mich sogar in einem der ersten Taxis, die die glitschige, notdürftig von Geröll und Erde freigeräumte, an Dutzend Stellen abgesackte Straße zu passieren wagten. Am Bahnhof in der Ebene erfuhren wir, daß der Zug in der Nacht doch nicht fuhr, aber ein anderer würde einige Stunden später starten und die Route über Santiniketan, meinen Wohnort, wählen. Mein Freund ergatterte sogar noch eine Reservierung. Meine Überredungskünste hätten den Schalterbeamten nicht beeindruckt. Man muß die Argumente eben gezielt in Szene setzen.

Unvergessen sind meine ersten Zugreisen in Indien vor beinahe vierzig Jahren, bei denen ich frühen Anschauungsunterricht in indischer Lebensweise erhielt. Auf diesen Reisen dritter Klasse von Bombay nach Kalkutta oder von Kalkutta nach Madras verwandelte sich, kaum pfiff die Dampflock zur Abreise, das Abteil in ein fröhlich-lautes, manchmal auch zänkisch-aufgeregtes Wohnzimmer der einfachen Leute. Es wurde gegessen und getrunken und großzügig geteilt, auch mit mir. Es wurden Lebensgeschichten ausgepackt, die in die zweite und dritte Generation der Verstorbenen und bis in den dritten und vierten Verwandtschaftsgrad reichten. Kaum hatten die Familien Vertrauen in mich gefaßt, bekam ich schon Familienaufgaben anvertraut. „Please hold my baby“, bat ein geplagter Vater, der seinen kleinen Schreihals nicht beruhigen konnte. Und tatsächlich! Kaum erblickte das Baby mein unbekanntes weißes Gesicht, blieb ihm das Gekreisch im Halse stecken, und es verstummte. Oder aber es begann vor Schreck zu pinkeln und näßte meine Hose, was der Umgebung kicherndes Vergnügen bereitete.

Familienleben konnte ich studieren, etwa die unendlich nachsichtige, allverstehende Liebe der Mütter zu ihren Kindern, denen sie nichts verbieten konnten. Etwa die dominierende Macht der Frauen, die – entgegen landläufiger Meinung – die Familiengeschäfte fest aus dem Hintergrund regieren. Auch den Respekt gegenüber den Eltern und anderen älteren Menschen, denen man, wie den Kindern, nichts versagen darf. Da waren auch das Schmatzen beim gierig heruntergeschlungenen Essen, das Rülpsen und Zischen, die fremde Körpersprache, vor allem das Kopfwackeln, und die Fähigkeit, in allen Körperhaltungen und Lebenslagen fest zu schlafen, gleichgültig wie heftig das Getöse rundherum war… Auf langen, überfüllten Zugreisen blieb dem Beobachter kaum etwas verborgen – Indien offenbarte sich mir tatsächlich „in vollen Zügen“!

Allerdings nur solange man selbst bereit zur Kommunikation war! Auf diesen Reisen blieb mir keine, auch nicht die intimste Frage erspart. Keine Freundin und kein Freund, nicht mein Vater und nicht meine Mutter haben mir so überschwenglich phantasievolle und gleichzeitig genaue Fragen zu meinem tiefsten Seelen- und Körperleben gestellt wie jene Mitreisende mir in den Zügen. In Indien ist Kommunikationsfähigkeit das A und O eines gesellschaftlich integrierten Lebens. „Sozialkompetenz“ nennt man das heute. Wer bereit ist, über beinahe alles und jeden zu sprechen und dabei die Grenzen der Diskretion landesüblich auszuweiten, der wird als Sohn und Tochter, als Bruder und Schwester, als Onkel und Tante angenommen und in die Arme geschlossen. Dem ist am Ort des Zielbahnhofs eine vorübergehende Heimat sicher, mit noch mehr Familie und natürlich mit der Nachbarschaft und den Berufskollegen, den Mitschülern und Lehrern und … und… Das ist Reisen in Indien, das sind tatsächlich Erlebnisreisen, die als konzentrierter Extrakt der Lebensreise gelten dürfen.

 

III

Touristen betrügen sich, wenn sie glauben, ein rasches Hingucken und Hinhören würde ihnen die Substanz eines Ortes offenbaren. Die Arroganz und Denkfaulheit solcher Menschen ist erstaunlich. Die leicht zugänglichen technischen Hilfsmittel und der moderate finanzielle Aufwand suggerieren ihnen, der Ort, den sie aufsuchen, sei ebenso leicht zu verstehen, wie sie hingekommen sind. Hinkommen und Dasein seien ein Vorgang, sie gehörten zur selben Ebene des Bemühens und des Verstehens. Gewiß, wenn man nach Athen fliegt, um eine Schiffsreise in der Ägäis zu unternehmen, sind Flug und Auf-dem-Schiff-Sein auf demselben Niveau: Man erholt sich, genießt das gute Essen, das blaue Meer und den ebenso blauen Himmel… Es sei ihnen gegönnt! Jedoch wer zum Beispiel nach Rom fliegt, um die Stadt zu kennenzulernen, braucht die eine Währung, mit der sich das Reisen an nahe oder ferne Ort erst lohnt: er braucht Zeit.  Nicht die leichte Erreichbarkeit der Stadt, nicht der Billigflug und das Hotel-Schnäppchen sind ausschlaggebend für den Gewinn, sondern wieviel an Lebenszeit, und mit ihr, wieviel an freier innerer Zuwendung und vorurteilsloser Aufnahmebereitschaft wir fähig sind zu investieren.

Wenn wir hastig reisen, nehmen wir nur uns selbst, unsere eigenen Kontexte mit und stülpen sie über die neuen Kontexte, in die wir eingetreten sind. Wir nehmen die neuen Orte gar nicht in ihrer Neuheit war. Es sind wieder nur Straßen und Häuser, Kirchen und Plätze, Menschen und Autos – wie zu Hause. Wer sich nicht innerlich von zu Hause frei machen kann, sollte dort bleiben. Was nutzt es, wenn nur der Körper reist?! Eine Reise bietet die günstige Gelegenheit, die alltäglichen Kontexte zu verlassen und sie – aus der räumlichen und zeitlichen Entfernung – zu relativieren. Was uns vor drei Tagen zu Hause in Frankfurt noch dringend erschien, oder ärgerlich war oder uns stolz machte, wirkt heute in New York doch recht banal. Es erscheint uns nicht mehr dringend, weil uns niemand und nichts mehr drängt. Der Ärger verraucht, weil keiner in ihm stochert. Mein Stolz wird grundlos, weil niemand meine Verdienste kennt. Meine gesamten vielschichtigen, bewußten und halbbewußten, versteckten und verschlüsselten Identitäten geraten ins Wanken und mischen sich neu.

Heute haben wir in New York die großartige Gelegenheit, uns so entblößt zu sehen, wie wir existentiell sind. Gewiß, dieser Zustand macht uns Angst. Lieber ziehen wir uns die unterschiedlichen Verkleidungen an. Denn heute grüßt uns in New York niemand mit „Frau Professor“ oder mit „Herr Generaldirektor“, weil niemand die Verkleidungen erkennt. In dieser inneren Entblößung besitzen wir die günstigste Verfassung, uns auf die neuen Kontexte in New York einzulassen – falls wir den Mut dazu besitzen. Mit genügend Zeit! Unsere in der Entblößung zumindest andeutungsweise entdeckte oder erlernte Bescheidenheit sagt uns nämlich, daß diese neuen Kontexte ebenso jahrelang, lebenslang und jahrhundertelang gewachsen sind, wie die unseren in der Heimat.

Auch in New York ist das Sichtbare und Hörbare nur die Spitze, die über der Wasseroberfläche herausragt. Diese Spitze wird von dem so viel umfangreicheren, bedeutenderen Gestein unter der Oberfläche ins Licht gehoben und getragen. Ebenso tragen die Menschen auf den New Yorker Straßen ihre gesamten Lebensjahre und in sich noch einmal Generationen ausgelebter, vergangener Menschenleben mit sich. Und die Gebäude und Parks, die Kronleuchter und schweren Samtvorhänge in den Restaurants tun es ebenso. Sie alle beugen sich unter den Generationen; sie alle werden aber auch von ihnen angefeuert und mit Energie versehen.

Alles das vergegenwärtigen wir uns vermutlich nicht – zumindest nicht spontan – durch die Anschauung, also nicht auf den Straßen und in den Parks von New York. Doch unsere Bildung und Lebenserfahrung und Phantasie lehren uns, daß die Gegenwart eine tiefreichende Geschichte besitzt und wir die Gegenwart als eine gewachsene Geschichte respektieren müssen – bei uns zu Hause wie auch in der Fremde. Auf einer Reise ist es unsere Aufgabe, in diese gewachsenen, organischen Kontexte – ein wenig nur und zumindest probeweise – hineinzureichen. Mit Bescheidenheit, wie gesagt, aber auch mit genau blickender Neugier!

Das ist, zeigt meine Erfahrung, am ehesten möglich durch die Begegnung mit den Menschen am fremden Reiseort. Ich bedaure immer, wenn Freunde aus fremden Ländern heimkehren, aber nichts von Gesprächen mit den dort lebenden Menschen erzählen können. Sie haben nur mit den Kellnern im Restaurant und den Damen an der Rezeption gesprochen. Im Übrigen haben sie nur Monumente und Landschaften erlebt. Ich versteige mich zu der Forderung: Eine nachdenkliche Reise ist erst vollkommen, wenn wir auf ihr zumindest eine Freundschaft gewonnen haben, die wir zu Hause weiterpflegen.

Wir müssen das Gespräch mit den Menschen suchen. Das ist einmal möglich durch genaue, freundlich-kritische, im Wesentlichen zustimmende Beobachtung, durch den Besuch solcher Orte, an denen Menschen einer fremden Stadt zusammenkommen. Also der Parks und der Restaurants und der Bistros, der Flußufer und Plätze, auch der Busse und Straßenbahnen und Züge. Halten wir die Augen offen, damit wir sehen, wo sich die Menschen treffen! Seien wir wach, um die Gelegenheiten zu erhaschen, den Austausch mit den Einheimischen herzustellen. Können wir uns auf winzige Weisen einbringen und die anderen selbst auch als Individuen würdigen?

Wir sollten über die Straßen und Wege zu Fuß gehen, immer viel und oft zu Fuß gehen, oder in den öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs sein, um ansprechbar zu sein und selbst ansprechen zu können. Und damit meine ich eben nicht nur die Kellner, Rezeptionsdamen und Taxifahrer, sondern Menschen außerhalb der Fremdenverkehrsindustrie. Beträchtlich hilft uns dabei eben, wenn wir uns diese Menschen in ihren Kontexten, mit ihrer Geschichte und mit ihren Lebensgeschichten vergegenwärtigen.

Es kommt also darauf an, nicht zu rennen und zu gucken, und weiterzurennen, um noch mehr zu gucken, sondern auch zu sitzen und auf sich wirken zu lassen. Es kommt darauf an, auf dem einen Platz, der uns anzieht, lange gegenwärtig zu sein – ihn zu begehen, auf ihm zu sitzen, auf ihm zu stehen, ihn zu fühlen, uns auszuspannen, um seine Ausmaße innerlich zu ahnen, seine Energie, seinen Rhythmus, sogar seine Geschichte in unseren Körper und in unseren Geist aufzunehmen. Dazu gehört Muße. Dazu ist’s eine gesunde Übung, in allem, selbst im Kleinsten, eine Bedeutung, einen Sinn zu vermuten – denn in allen „Dingen“ „schläft ein Lied“ (wie die Romantiker dichteten) und wir hören es, treffen wir nur „das Zauberwort“. Das will sagen: Finden wir nur jene Formel, mit der wir uns zumindest der Rätselhaftigkeit der Menschen und Dinge bewußt werden. An fremden Orten hat alles eine Bedeutung: die Kleidung, die Gestik, die Laute der Sprache, das Bunte und das Eintönige, die Uhrzeit und die Sommerwolken. Alles will uns etwas lehren.

Neben unserer Bildung, Lebenserfahrung und Phantasie wäre es so wichtig, wenn wir dem Ort oder dem Land schon durch vorbereitende Lektüre Respekt bezeugten, wenn wir ein Wissen von der Geschichte, der Religion oder den Religionen, der Sozialordnung und den kulturellen Veranlagungen mitbrächten. Wenn wir sogar die Sprache verstünden, uns zumindest darum bemüht hätten. Ich wiederhole es: alles das bedarf dieser teuersten Währung, mit der wir auf nachdenklichen Reisen Handel treiben können: der Zeit.

 

IV

Eine nachdenkliche Reise ist am ersprießlichsten, wenn wir zweimal oder immer wieder an denselben Ort fahren. Die Nachdenklichkeit einer Reise wächst, wenn wir das Neue schon als gewachsen und geschichtlich bedingt einschätzen und wir Bekanntschaften und Freundschaften wiederaufnehmen können. Das Befriedigendste an einem fremden Ort weitab der Heimat ist, wenn er nicht mehr fremd ist. Wir fahren nach Rom oder Paris und verstehen schon sehr bald wieder die Kontexte der Menschen in diesen Städten, und mehr noch: wir sind selbst in diese Kontexte mit hineinverwoben. Das Lebensgewebe in der Heimat wächst mit dem Lebensgewebe in der Fremde zusammen. Wir fahren nach Rom oder Paris und vertauschen keineswegs eine Lebensroutine mit einer anderen, vielleicht einer ebenso lästigen. Sondern wir tauchen in die – schon längst erkannte und lang erwartete – Magie eines Ortes ein und schöpfen aus ihr Energie. Dem Ort ist nicht das Neue und Faszinierende genommen. Doch sind wir von den unbewußten Ängsten der Ankunft befreit, ob wir den Ort verstehen und mögen und uns in ihm sorglos bewegen können. Wir erkennen ihn spontan wieder und fühlen uns erfrischt und magisch berührt.

Durch wiederholte Besuche werden unsere intuitiven Kräfte, unsere Möglichkeiten der Assoziation immer vielfältiger. Erinnerungsfäden verflechten sich mit dem Ort, bestimmte Restaurants, Museen, Plätze, eine gewisse Bank in einem Park, gewisse Statuen und Inschriften an Häusern erhalten eine Patina durch unsere persönlichen Beziehungen. Sie sprechen eine Sprache zu uns, die nicht einmal die Einheimischen hören können. Solche intimen Beziehungen unterhalte ich etwa zu Wien, in dem ich diesen Essay geschrieben habe, auch zu Edinburgh und seinem schottischen Hochland, dann zu jenem Kalimpong im Himalaya und seiner Umgebung, von dem ich eingangs erzählt habe.

Wenn wir zwei oder drei solcher Städte oder überschaubarer Landschaften haben, in die wir immer wieder gern reisen, wird auch das Leben in unserer Heimat von diesen Beziehungen beleuchtet. Die Heimat spiegelt sich im fremden Ort und gewinnt einen neuen Glanz. Wir lernen das unverwüstlich Einmalige der Heimat, in der unsere Wurzeln und die Wurzeln der Familie tief in die Erde reichen, deutlicher schätzen. Die Heimat, in der die Häuser stehen, die wir bewohnen, und die unsere Vorfahren bewohnten, und in der die Gräber der Familie liegen, ist durchdrungen von einer unersetzlichen kraftvollen Süße. Und sie wird kraftvoller, je mehr wir unser Leben mit anderen Ländern, Städten und Landschaften verbinden.

Ideal ist ein engmaschiges, großzügiges Assoziationsfeld, in das Ehepartner, Geliebte, Freunde und Bekannte, Kinder und andere Verwandte, Verstorbene und Lebende ihre je eigenen Knotenpunkte gewebt haben, ein Assoziationsfeld, in dem Erinnerungen und Ereignisse der Freude und auch der Trauer jenen Städten und Landschaften ihre persönliche und kostbare Bedeutung verleihen. Ideal ist, wenn sich in der Erinnerung wie in der aktiven Gegenwart „alles mit allem“ verbindet. Nichts ist isoliert, nichts ist nur oberflächlich und übergestülpt, nichts ist undifferenziert und nebeneinandergestellt. Ist das Leben auf diese Weise in einer Vielzahl lebendiger Beziehungen verwoben, dann – meine ich – trägt ein Leben bemühter, nachdenklicher Reisen seine Früchte.

In der ersten Lebenshälfte – sagen wir, bis zum Ende unseres vierten Jahrzehnts – sollten wir reisend in der Welt suchen, welche Orte und Landschaften unseren Anlagen und unseren Bedürfnissen entsprechen, in welchen von ihnen sich unser Leben besonders erstaunlich und erfreulich widerspiegeln kann. In der zweiten Lebenshälfte können wir diese Orte und Landschaften immer wieder besuchen und sie in unser Leben hineinweben.

Nachdem wir auf eine solche Weise bewußt mit dem Reisen umgehen, sind wir wieder am Beginn unserer Betrachtungen angelangt: nämlich beim Reisen als existentiellem Erlebnis. Zu Beginn evozierten wir das Reisen als die Sehnsucht, dem beängstigenden Gefühl der Leere zu entkommen. Wir erschaudern vor der großen Lebensreise. Darum wollen wir sie durch überschaubare, kurze Erlebnisreisen im Kleinen abbilden und faßlich machen und dadurch die Ungeheuerlichkeit der Reise von der Geburt zum Tod bannen. Doch im letzten Abschnitt der Lebensreise ist diese Angst vielleicht gedämpfter geworden, wir sind innerlich freier und gelöster und darum sind wir wieder offen für das Erlebnis des Reisens als existentielles Symbol. Die indische Philosophie zeigt uns, daß gerade diese Gebärde der Unbeständigkeit im letzten Lebensabschnitt Sinn macht.

Die indische Philosophie kennt nämlich die vier Lebensstufen, die jeder Mensch durchschreitet, um sein Leben erfüllt abschließen zu können. Der Mensch beginnt als Schüler, der bei einem Lehrer lernt; er heiratet und gründet eine Familie. Ist der erste Sohn erwachsen und kann die Familiengeschäfte übernehmen, ziehen sich Vater und Mutter als Einsiedler in die Wälder zurück, um ein der Gottsuche hingegebenes Leben zu führen. In der letzten Lebensstufe aber trennt sich der Mann von seiner Ehefrau und wandert, wandert, wandert allein von Ort zu Ort. Er ist ein Sannyāsi, ein Bettelmönch, ein „Unbehauster“, der nirgendwo mehr Heimat hat und sich nirgendwo hingezogen fühlt.

Diese Radikalität der „Unbehaustheit“ werden wir nicht nachahmen wollen. Doch annehmen dürfen wir davon, daß wir die Polarität vom In-der-Heimat-Sein einerseits und dem Auf-Reisen-Sein andererseits, von der ich bis jetzt gesprochen habe, zuletzt überflügeln und auflösen. Trishnā – der Lebensdurst ist vergangen. Ich habe mitangesehen, wie Menschen in ihren letzten Lebensjahren bitter wurden, weil sie nicht mehr dorthin reisen konnten, wo sie ihre Energie fanden. Früh genug möchte ich dieser Bitterkeit vorbeugen, indem ich Heimat und Reiseorte zu transzendieren lerne. Das soll geschehen, wenn die inneren Kräfte noch so stark sind, daß sie diese letzte Lebensstufe erklimmen können. Am Ende der Lebensreise wie am Ende der Erlebnisreisen muß die Transzendenz stehen. Sie ist keine gemütliche Heimat, kein magischer Reiseort, aber in ihr lebt der Reichtum, den wir durch diese doppelte Reise-Erfüllung in uns aufgehäuft haben. Diese Fülle in uns, sie ist das Sprungbrett zu dem Wort, das uns bisher zittern machte, nämlich: „Das ist, was ich gesucht habe.“ Es ist das Sprungbrett zu dem Ganz-Anderen der Transzendenz, bei dem wir alles Reisen, alle Bewegungen in Raum und Zeit zurücklassen und das Geschehen ins Innere verlegen. Das Thema „Reisen“ ist dann abgeschlossen.

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